Toter geht's nicht
sage ich.
Miriam blickt zu mir. «Echt, Henning, danke, dass ich kommen durfte, aber schmeiß mich raus, wenn du pennen willst oder so, ne?»
«Ja klar», sage ich. Und: «Respekt, dass du zu ihm gefahren bist, Miriam. Ich habe mich bisher nicht getraut. Ich habe Angst vor genau dem, was du gerade erlebt hast. Ich kann mit so was nicht so gut umgehen.»
Ich bin überrascht über meine Offenheit. Der Alkohol macht mich ehrlich.
«Eine Scheiße muss man», unterbricht mich Miriam. «Man muss gar nicht umgehen oder so was. Man muss einfach nur sein, da sein. Und nicht ständig davor Angst haben, was falsch zu machen. Einfach machen. Nicht immer alles abwägen und rumzögern.»
Sie hat recht. Sie ist schlau. Sie ist jung, und ganz plötzlich ist sie auch noch schön. Mir wird schwindelig. Miriam redet weiter, ich höre nicht mehr zu. Ich gucke nur noch. Ich sehe ihre Lippen, wie sie sich bewegen. Kein Lippenstift. Einfach Lippen. Ich betrachte ihren Hals, ihren Haaransatz am Nacken. Ich sehe, wie ihre Nase vom vielen Weinen läuft, und warte darauf, dass der Tropfen sich löst und irgendwohin droppst, zum Beispiel auf ihre weiße Bluse, die die Sicht auf eines ihrer hervorstehenden Schlüsselbeine ermöglicht. Schlüsselbein – wie kann es für ein solch entzückendes Körperteil nur so ein hässliches Wort geben. Wenn ich wollte, könnte ich mich auf die Suche nach ihrem Brustansatz machen. Ich entscheide mich aber für den Blick in ihre grünen Augen und merke erst in dem Moment, dass sie längst aufgehört hat zu reden. Unsere Blicke treffen sich tief. Meine Betrunkenheit gibt mir den Mut, nicht wegzuschauen. Wir sehen uns eine gefühlte Ewigkeit an. Berühren uns nicht. Nur mit Blicken. Wir sind uns nah. Es ist die Traurigkeit, die Einsamkeit und die Bedürftigkeit, ihre, meine und vielleicht auch die von Markus, die uns heute, hier, in diesem Moment, in dieser Sekunde zusammenführt.
Dann furzt Berlusconi, und wir küssen uns.
Ich denke, man kann es Leidenschaft nennen, als wir und der Rotwein vom Sofa kippen und wir uns auf dem Teppichboden lieben. Währenddessen, bei ganz bestimmten Lauten, die Miriam ausstößt, schaffe ich es, nur einmal kurz darüber nachdenken, wie es wäre, wenn Laurin oder Melina plötzlich im Wohnzimmer stünden. Schnell gelingt es mir aber wieder zu genießen, dass es auch für mich anscheinend noch Situationen im Leben gibt, in denen das dämliche Hirn sich auch einmal ausschaltet.
Als ich gegen halb sechs in der Früh erwache, bemerke ich, dass Miriam verschwunden ist. Ich bin erleichtert. Was hätte ich meinen Kindern zum Frühstück gesagt? Schaut mal, liebe Kinder, das ist Miriam Meisler. Frau Meisler ist meine Kollegin, und wir haben heute Nacht auf unserem Wohnzimmerteppich, den eure Mutter vor drei Jahren gekauft hat, nach allen Regeln der Kunst miteinander gevögelt …?
Nein, ich bin froh, dass Miriam so weitsichtig war, das Weite zu suchen. Und nicht nur wegen Melina und Laurin, wenn ich ehrlich bin. Die Am-Morgen-danach-Situation hätte mich auch ohne Kinder überfordert, da ich nicht wirklich ein ausgewiesener One-Night-Stand-Fachmann bin.
Verknittert kippe ich Salz auf die Rotweinflecken im Teppich, um die Spuren der Nacht zu tilgen. Genutzt hat das noch nie. Ich versuche es trotzdem immer wieder, erfolglos, so wie Bayer Leverkusen mit der deutschen Meisterschaft oder Oka Nikolov mit der Strafraumbeherrschung.
Ich fühle mich schuldig. Allen gegenüber, Franziska, meinen Kindern, Miriam, dem Präsidium und nicht zuletzt mir selbst. In drei Stunden werde ich mit Miriam und Teichner im Auto sitzen. Als wäre nichts gewesen.
Als wäre nichts gewesen, sitze ich mit Miriam und Teichner im Auto. Ich fahre. Teichner sitzt neben mir, Miriam auf der Rückbank. Ich spüre, wie sie über den Rückspiegel Blickkontakt zu mir sucht. Ich weiche ihm aus. Wie immer. Wie immer weiche ich ständig allem aus.
Teichner erzählt, dass Carola Mörtelspecht von der Künstleragentur Shalala angerufen habe. Offenbar hat sich nun auch Frank Drossmann bei ihr gemeldet. Auch er wollte mit Herr Bärt sprechen. Wie sein Vater. Frau Mörtelspecht habe ihm natürlich den direkten Kontakt verwehrt, doch er sei sehr hartnäckig gewesen.
«Drossmann junior war hartnäckig?», frage ich nach. Schwer vorstellbar.
«Yep», macht Teichner. Nicht einmal «Ja» sagen kann er, ohne dass es mir unsympathisch wird.
«Dann ist es doch durchaus möglich, dass er weiß, was sein Vater von
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