Toter Mann
machen?« »Ich werde jedenfalls nicht nichts machen«, sagte Winter, drehte auf dem Absatz um und ging.
Örgrytes Rasen waren mit rotem Laub bedeckt. Die Bäume waren nackter als noch vor einigen Tagen. Die Natur hatte sich dazu entschlossen, dem Altweibersommer zu trotzen. Jetzt lauerte der Frost. Winter musste plötzlich an die späten Oktobernachmittage in Marbella denken, die einen so gar nicht an Frost denken ließen. Das Blut floss widerstandslos durch den Körper. Alles floss ohne Widerstand.
Bei Richardssons hatte niemand Laub geharkt. Dadurch wirkte das Haus unbewohnt. Die Jalousien waren heruntergelassen, ein Haus, das Trauer trug. Vielleicht trauerten sie bereits, vielleicht trauern sie schon seit langem, dachte Winter und stieg aus seinem Mercedes.
In der Auffahrt stand kein Auto. Die Kinder waren womöglich noch in der Schule. Ihre Namen fielen ihm im Augenblick nicht ein.
Irgendwo im Haus klingelte ein Telefon. Es klingelte ins Leere.
Dann hörte es auf und fing nach einer Weile wieder an. Jemand, der nicht glaubte, dass keiner zu Hause war.
Winter klingelte an der Tür. Die Töne vermischten sich mit dem Telefonklingeln. Überfall von zwei Seiten, dachte er. Er hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich um. Der Junge stand an der Pforte. Er sah aus, als wollte er wieder weglaufen. Er hatte einen Schritt rückwärts gemacht. Über der Schulter trug er eine Sporttasche.
Winter hob die Hand zum Gruß. Es war eine freundliche Geste.
Er wollte nicht rufen. Der Junge blieb unentschlossen stehen. Winter ging rasch die Treppe hinunter auf ihn zu. Der Junge wartete. »Hallo«, sagte Winter.
»Hallo.«
»Ich bin Polizist. Ich bin schon mal hier gewesen.«
Der Junge nickte. Winter erinnerte sich an das erschrockene Gesicht, das er am Fenster gesehen hatte. Und wie der Junge ins Zimmer gekommen war, um seine Familie zu verteidigen. Die Mutter und die Schwester. Der Vater war nicht da gewesen. Aber vielleicht verteidigte der Junge auch ihn.
»Ich heiße Erik Winter.«
Der Junge nickte. Plötzlich fiel Winter sein Name wieder ein. »Du heißt doch auch Erik, oder?«
»Ja.«
Auf der Sporttasche war ein blauweißes Clubabzeichen. »Spielst du nicht in der Stadtteilmannschaft?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Das ist auch meine Mannschaft.« Winter wies auf das Abzeichen.
»Spielen Sie Fußball?«
»Ob ich Fußball gespielt habe, meinst du? Ja.« »Wo?«
»In verschiedenen Clubs, aber überwiegend für Sandarna.« »Sandarna? Sandarna BK? Steht der nicht auf Platz vier?« »Ich glaube, ja. Du kennst dich wohl gut aus mit Tabellen?« Der Junge nickte wieder.
»Im Augenblick macht es aber keinen Spaß, sie sich durchzulesen«, sagte Winter.
»Der IFK kann immer noch Dritter werden«, sagte der Junge. »Es sind nur noch zwei Spiele zu spielen«, sagte Winter. »Das schaffen die nicht.« »Die schaffen das.«
»Gut«, sagte Winter. »Ich glaube dir.« »Suchen Sie Papa?«
Der Junge setzte die Sporttasche ab. Sie schien leicht zu sein. Fußballschuhe waren leicht heutzutage. Sie waren ja nicht mal mehr aus Leder.
»Ja, wir versuchen ihn zu finden.« »Und ... wenn er das nicht will?« Winter schwieg.
»Wenn er nicht gefunden werden will, brauchen Sie ihn auch nicht zu suchen.«
»Manchmal muss man mit Leuten reden, Erik. Wir müssen uns mit deinem Papa über eine Sache unterhalten.«
»Was für eine Sache?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Polizeigeheimnis, weißt du. Aber es wäre gut, wenn wir mit deinem Papa reden könnten. Wir sprechen jeden Tag mit vielen, vielen Menschen. Das ist sozusagen unser Job. Und jetzt möchten wir mit deinem Papa reden, aber das können wir leider nicht.«
Der Junge hob die Tasche wieder auf. Er schaute zum Haus, unschlüssig, ob er hineingehen sollte.
»Hast du mit deinem Papa gesprochen?«, fragte Winter. »Seitdem er ... verschwunden ist?«
»Nein.«
»Hat er nicht angerufen?«
»Nein.«
»Kannst du dir vorstellen, wo er sein könnte?« »Nein.«
»Ist er vielleicht weit weggefahren?«, fragte Winter.
Der Junge machte einen Schritt auf die Gartenpforte zu. Winter hatte sie offen gelassen.
»Er ist tot«, sagte der Junge.
33
Winter fuhr zurück in die Stadt, in seinem Kopf dröhnten die Worte des Jungen Erik. Es waren definitive Worte. Aber sie konnten Verschiedenes bedeuten. Der Tod trat in unterschiedlichen Gestalten, in unterschiedlichen Rollen auf. Winter hatte den Jungen zu fragen versucht, was er damit meinte, aber er hatte nur den
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