Toter Mann
musst du immer sie fragen?« »Das tu ich doch nicht immer?«
»Nie kannst du was selber bestimmen«, sagte Elsa.
Er sah Angela an. Sie lächelte, sie hatte es gehört. Vielleicht hatte Elsa recht. In seinem Job entschied er schon so lange alles selber, dass er in der Familie gar nichts entscheiden wollte. Vielleicht Details, wenn es um das Essen ging.
»Okay«, sagte er. »Darf ich?«
»Ja.« »Jaaa!«
»Und ich hab nicht mal Angela gefragt«, sagte Winter.
Er hatte nur einen relativ kleinen Whisky getrunken, vielleicht auch zwei. Angela hatte geschwiegen. Jetzt sagte sie: »Seit einiger Zeit trinkst du mehr, Erik.«
»Wirklich?«
»Ist dir das nicht bewusst? Ist dir das noch nicht aufgefallen?« »Wer hat mich denn heute Abend gefragt, ob ich ein Glas Wein möchte?«
Sie antwortete nicht.
»Ich trinke nicht mehr als früher.« Auch jetzt sagte sie nichts.
Es kam schon vor, dass er einen Whisky mehr trank, aber dann war es reine Medizin. Hatte er im Augenblick Kopfschmerzen, nur zum Beispiel? Nein. Aber er würde Schmerzen bekommen, wenn sie so weitermachte.
Er stand auf und nahm die Whiskyflasche vom Tisch, ging in die Küche, stellte die Flasche auf die Anrichte und kehrte zurück. »Heute Abend also keinen weiteren Whisky. Zufrieden?«
Sie antwortete nicht. Er setzte sich wieder.
»Suchst du Streit?«, fragte sie. »Wie?«
»Du benimmst dich, als wolltest du einen Streit vom Zaun brechen, ganz egal, was ich sage.«
»Ich will keinen Streit. Bei der Arbeit hab ich schon genug Ärger.«
»Gibt's Probleme?«
»Ich hab gesagt, bei der Arbeit, nicht wegen der Arbeit.« »Entschuldige bitte.«
»Wer stänkert denn jetzt?« »Ich etwa?«, fragte Angela. Er antwortete nicht.
Schweigend saßen sie da. Er hörte den Verkehr vom Vasaplatsen. Sonst nahm er ihn nicht wahr. Er war Teil der Geräuschkulisse geworden. Aber plötzlich irritierten ihn die Geräusche da unten. Warum zum Teufel konnten die Leute abends nicht zu Hause bleiben? Warum mussten sie unter seinem Balkon herumkurven, Runde für Runde um den Vasaplatsen? Er stand wieder auf.
»Ich vertrete mir ein wenig die Beine«, sagte er.
»Was hast du vor?«
»Die Beine vertreten, hab ich doch gerade gesagt. Ich brauche Luft.«
»Ich brauche auch Luft.« Angela erhob sich. »Ich habe es nötiger als du. Im Gegensatz zu dir bin ich heute gar nicht richtig draußen gewesen. Deshalb gehe ich jetzt ein bisschen Luft schnappen.« »Was hast du vor?«, fragte er. Den Satz hatte er gerade eben gehört.
Sie antwortete nicht.
Einige Minuten später hörte er die Wohnungstür zuschlagen. Er war die ganze Zeit am selben Fleck stehen geblieben, wie paralysiert.
»Wo bist du gewesen?«
Er wusste nicht, wie lange sie weggeblieben war. Er hatte sich eine Weile an Lillys Bett gesetzt und das Kind betrachtet, das den Schlaf der Unschuldigen schlief. Aber vielleicht waren alle Menschen unschuldig, wenn sie schliefen, es war nicht allein das Privileg der Kinder. Vielleicht war auch er unschuldig, wenn er schlief. »Ich bin einmal um den Häuserblock gegangen«, sagte sie. »Hast du Leute getroffen?«
»Fast keine.«
»Man sollte abends nicht allein unterwegs sein.« »Ich bin nur durch beleuchtete Straßen gegangen.«
Das stimmte nicht. Vasastan konnte ein dunkler Ort sein. Die Häuser waren zu hoch und zu alt.
»Dann bin ich jetzt an der Reihe«, sagte er. »Wie meinst du das?«
»Spazieren zu gehen. Ich brauche auch Luft. Hier gibt es mehrere Leute, die frische Luft brauchen.«
»Meine Güte, Erik.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Sie standen im Flur. Er war gerade aus Lillys Zimmer gekommen, als Angela die Wohnungstür aufschloss. »Was ist eigentlich mit dir los?« »Mir geht's gut, wenn ich nur ein bisschen frische Luft bekomme.«
»Bist du deprimiert, Erik? Wie geht es dir wirklich?«
»Was ist das für eine verdammte Frage? Deprimiert? Warum sollte ich deprimiert sein?«
Die Luft war nicht so frisch, wie er gedacht hatte. Vielleicht lag es an ihm, dass er es so empfand. Deprimiert war er jedenfalls nicht. Er wusste nicht mal, was Depressionen waren. Vermutlich war man deprimiert, wenn man nichts mehr lustig, spannend oder interessant fand, aber so etwas kannte er nicht. In seiner Welt war alles eine Herausforderung. Jeder Tag war wahnsinnig spannend. Und Spaß hatte er auch. Er lachte jeden Tag. Er spielte mit seinen Kindern, wenn sie nicht schon schliefen. Er schenkte sich einen kleinen Whisky ein, wenn es längst dunkel war. Ja, das
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