Toter Mann
Australien.«
»Wollen sie ihn nicht besuchen und mal ein ernstes Wörtchen mit ihm reden?«
»Ein ernstes Wörtchen? Wie meinst du das?«
»Den Kerl an die Wand stellen, um ein abgenutztes Klischee zu benutzen. Auf Konfrontationskurs gehen. Er hat seine Kinder verlassen, als sie noch klein waren, und bald sind sie groß genug, um ihm das vorzuhalten.«
Sie antwortete nicht. Er sah ihr an, dass sie auch schon daran gedacht hatte. Dass die Zeit kommen würde. Dass es nötig war. Und dass es unter Umständen hätte vermieden werden können, wenn sie eine andere gewesen wäre. Wenn er ein anderer gewesen wäre. Und irgendwann ist es dann zu spät.
»Ich habe versucht, sie davor zu schützen«, sagte sie. »So einen Schutz gibt es nicht«, sagte er.
»Ich bin nicht sicher, ob ich es verstehe. Aber wenn Bim oder Kristina anfangen, ernsthaft darüber nachzudenken, dann müssen wir handeln.«
Er nickte, nahm einen Schluck von seinem Kaffee. Im Garten wurde es rasch dunkel. Die Farben verschwanden und die alte Spielhütte vor der Hecke wurde grau. Dort hatte er viele Male übernachtet, genau wie Lottas Töchter und seine eigenen Kinder. Bim und Kristina waren wie Elsas und Lillys große Schwestern. Manchmal wollten sie gar nicht weg vom Rasen oder aus der Spielhütte. Wenn sie nach Hause kamen, musste er ihnen Höhlen bauen. Ein abgeschliffener Holzboden war genauso gut wie ein Rasen, eben nur ein bisschen härter.
Sie saßen im Halbdunkel, die Gesichtszüge seiner Schwester verschwammen. Er konnte nicht mehr erkennen, was sie dachte.
21.40
Sie hatte sie an Land gehen sehen. Es dauerte eine Weile, bis das Plastikboot vertäut war. Der Wind hatte zugenommen, und wenn sich die Wellen kräuselten, war das Wasser rund um das Boot wie Silber.
Zwei von ihnen kannte sie.
Sie erinnerte sich an den Namen des einen. Er war ziemlich hübsch. Jetzt lächelte er. In seinem Gesicht blitzte etwas auf. Ein Blitz. Ein Blitz aus heiterem Himmel, dachte sie. Der Himmel war so klar, wie er nur sein konnte, und blauer als vor einer Stunde.
Jetzt standen sie einfach da.
Derjenige, mit dem sie gekommen war, ging auf das Boot zu. »Hallo«, sagte sie.
Er drehte sich nicht um.
Sie setzte sich in Bewegung. »Warte mal«, sagte der Hübsche. »Was ist?«, fragte sie.
Keiner der anderen regte sich. Er hatte eine Hand ausgestreckt, sie aber nicht berührt. Trotzdem bildeten sie eine Sperre, die Hand und der Arm. Ein unsichtbarer Zaun, dachte sie.
»Ich will hier weg«, sagte sie. »Mir ist kalt.«
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte einer der anderen. »Wovor sollte ich Angst haben?«, sagte sie.
Keiner antwortete. Sie sah seinen Rücken, wie er sich auf das Boot zubewegte. Es hüpfte auf den Wellen. Vielleicht hörte sie glucksende Geräusche. Jetzt hatte er es fast erreicht. Sie wollte auch dort sein. Sie wollte in einem Boot sitzen, das sie vom Pferdeberg wegbrachte. So weit weg wie möglich, bis zur anderen Seite der Erdkugel. Gar nicht weit von hier fiel die Erde ab zur anderen Seite.
Plötzlich begriff sie. Warum verstehe ich es erst jetzt? Bin ich eine Idiotin?
Aber das kann doch nicht sein. Das geht doch nicht. So kann es nicht sein. Ich kenne sie, sie kennen mich, einige von ihnen. Die anderen habe ich vielleicht schon einmal gesehen. Sie sind im Sommerlager gewesen. Einer von den anderen bestimmt. Er hat dort gearbeitet, ich habe ihn mit einem Hammer gesehen.
Sie schaute den Hübschen an, der noch immer die Hand ausstreckte. Er sah nicht bösartig aus. Er streckte die Hand aus, als wollte er so lange wie möglich den lauen Wind spüren.
Einer der anderen machte einen Schritt vorwärts. Er hatte blonde Haare. Es war der mit dem Hammer. Er hatte den Hammer in der Hand!
Die Hand des Hübschen schnappte zu und hielt ihren Arm wie mit groben Seilen.
20
Bergenhem sah den anderen vor dem Fenster. Er musste um die Ecke vom Maskinkajen gekommen sein. Plötzlich war er da. Bergenhem schaute sich rasch um, ob es jemand anders auch gesehen hatte. Inzwischen waren mehr Gäste im Restaurant. Aber wer würde sie schon beachten?
Der Mann betrat das Lokal. Er hatte Bergenhem durch die Glaswand entdeckt. Nun streckte er die Arme aus wie zu einer Umarmung.
»Nicht hier, Samuel«, sagte Bergenhem. Der andere lächelte.
»Das ist eine der am häufigsten gebrauchten Redewendungen der Welt«, sagte er.
Bergenhem setzte sich wieder.
Die japanische Oberkellnerin kam an den Tisch, Bergenhem nahm jedenfalls an, dass sie eine
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