Totgekuesste leben laenger
ihre Flügel vor Schmerz, der unglaublich sein musste, und ihr Wehklagen brach so unmittelbar ab, dass es mir Angst einjagte. Dann verschwand sie mit einem letzten Flügelschlag Ich duckte mich, als Schmutz und Gras durch die Luft flogen.
»Madison«, sagte Grace, ihre entsetzte Stimme hob sich klar gegen den Lärm der Band ab. »Steig in den Wagen. Hol Josh und dann steigt in den Wagen.« Nakita war verschwunden, aber es wimmelte immer noch von Schwarzflügeln. Hunderte von ihnen kreisten über uns. Ich war wieder sichtbar und Grace war bei uns, aber sie zerstreuten sich noch immer nicht. »Josh«, keuchte ich. Ich fühlte mich so erschöpft und substanzlos. Nakitas Amulett immer noch um mein Handgelenk geschlungen, stolperte ich zu ihm hinüber und half ihm auf. Taumelnd schnappte ich mir meine Kamera, die vergessen auf der Erde lag. Die Tür des Pick-ups stand offen und ich schubste Josh hinein und schob ihn hinüber auf die Beifahrerseite. Wenigstens lief der Motor noch, na wenigstens etwas.
»Geht's Josh gut?«, fragte ich Grace und knallte die Tür zu. Es fühlte sich an, als würde der harte Schaltknüppel meine Hand bis zu den Knochen durchdringen.
»Hat sie ihn erwischt?«
»Es war kein sauberer Schlag«, erwiderte Grace. »Ich wollte sie davon abhalten, aber du standest im Weg. Seine Seele baumelt am seidenen Faden. Los jetzt, weg hier. Wenn sie gemeinsam angreifen, kann ich sie nicht mehr aufhalten. Jetzt schütze ich dich wieder, aber zwei von ihnen haben eine Kostprobe von dir bekommen und das spüren die anderen. Mach dich nicht wieder unsichtbar, Madison, hörst du, lass es! Jedes Mal, wenn du das machst, zerstörst du dein Amulett ein bisschen mehr.«
Zitternd parkte ich rückwärts aus und legte den Vorwärtsgang ein. Josh lehnte in sich zusammengesunken an der Beifahrertür. Mach dich nicht unsichtbar. Davor hatte Grace mich schon von vornherein gewarnt. Sie hatte gesagt, dass es die Schwarzflügel anzog. Aber mir war schließlich keine Wahl geblieben. »Josh?«, wandte ich mich an ihn, als wir an der Straße angelangten. Ich musste die Geschwindigkeit auf ein nervtötendes Dahinkriechen reduzieren, um nicht die Leute zu überfahren, die sich jetzt erst auf den Heimweg machten. »Josh, rede mit mir.« Ich sah mich um, aber es schien, als hätte niemand Nakita schreien hören. Niemand hatte unter den Bäumen einen geflügelten Engel von entsetzlicher Schönheit gesehen, der sich vor Schmerzen krümmte. Ich streckte die Hand aus und schüttelte ihn. Er stöhnte auf »Krankenhaus«, flüsterte er. »Madison, ich hab das Gefühl, ich sterbe. Bring mich dahin. Bitte.«
Die Angst durchströmte mich. Ich drängelte mich hinaus auf die Hauptstraße und trat das Gaspedal durch bis zum Anschlag. Von überall her ertönte Gehupe und ich stellte vorsichtshalber den Warnblinker an, für den Fall, dass das irgendwas half. Wenn mein Dad das hier rausfand, war ich tot. Noch mehr als ohnehin schon.
10
Der Geruch von Desinfektionsmitteln und Heftpflastern waberte den sterilen weißen Flur herunter bis ins braungraue Wartezimmer der Ambulanz. Mittlerweile hatte es sich geleert, bis auf eine Frau mit einem heulenden Baby auf dem Schoß. Nach vorn gebeugt saß ich da, rieb mir den Ellbogen und dachte daran, wie es sich angefühlt hatte, als ich Nakita geschlagen hatte. Ich war müde und hatte es satt, auf irgendwelche Neuigkeiten zu warten. Die Frau mit dem Baby hatte auch noch einen kleinen Sohn dabei, der die ganze Zeit nichts als Blödsinn veranstaltete, wahrscheinlich aus Wut darüber, dass sein Schwesterchen mehr Beachtung bekam. Die Mutter, die vollkommen fix und fertig wirkte, warf mir wütende Blicke zu, während sie die Formulare ausfüllte, um ihr fieberkrankes Baby behandeln zu lassen. Sie war schon hier gewesen, als ich hereinstürmte, aber ein bewusstloser Patient hatte nun mal Vorrang vor einem Baby mit Koliken. Na gut, vielleicht hatte ich auch ein kleines bisschen nachgeholfen, als ich das Personal der Notaufnahme angebrüllt hatte. Ich hatte solange rumgeschrien, bis eine Polizistin, die mir anscheinend gefolgt war, hereinkam. Mann, ich hatte sie definitiv nicht im Rückspiegel gesehen. Ich mochte ja zu schnell gefahren sein, aber dafür hatte ich für den Weg auch nur acht Minuten gebraucht. Acht furchtbare Minuten, in denen ich geglaubt hatte, Josh würde sterben.
Ich schlurfte über den abgelatschten Teppich und ließ mich in die Polster einer Sitzbank sinken. Verstohlen blickte ich mich
Weitere Kostenlose Bücher