Totgesagt
Atmosphäre erst mal einen Drink genehmigt. Dann noch einen und noch einen – bis hin zum Filmriss.
Nur war dies der erste Kneipenbesuch, seitdem für ihn Schluss war mit dem Alkohol. Das wollte er nicht gleich versauen.
“Ein Clubsoda.”
Schweigend saßen sie sich gegenüber, bis die Kellnerin die Getränke brachte. Hunter war bemüht, Clay nicht beim Trinken zuzusehen. Mit abgewandtem Gesicht ließ er den Blick über die Tanzfläche schweifen, wo ein Grüppchen angetrunkener Damen unter Gelächter versuchte, den Macarena zu tanzen. Offenbar war der Song in einigen Landesteilen immer noch der Hit.
“Wollen Sie mir nicht endlich sagen, warum wir hier sind?”, fragte Clay.
“Ich bin da auf etwas gestoßen”, erwiderte Hunter.
Clay, der gerade die Flasche zum Mund führte, hielt kurz in der Bewegung inne. Nach einem ordentlichen Schluck stellte er sie dann wieder auf den Tisch. “Auf was?”
Hunter zog Madelines Tagebuch aus der Jackentasche und schob es ihm über die Tischplatte hinweg zu.
“Was – ein Poesiealbum?”, fragte Clay, ohne es anzurühren. Er sackte etwas tiefer in seinen Sitz, beobachtete Hunter aber aufmerksam.
“Ein Tagebuch. Das von Madeline”, erklärte er. “Geschrieben vom achten bis zum neunten Lebensjahr.”
“Zu der Zeit wohnten wir noch in Booneville”, winkte Clay achselzuckend ab. “Was da drinsteht, kann mich nicht betreffen. Und andere aus meiner Familie auch nicht.”
“Ist mir schon klar.”
Clay klemmte die halbleere Flasche zwischen zwei Finger und ließ sie hin und her pendeln. “Warum zeigen Sie mir dann das Ding?”
“Haben Sie’s mal gelesen?”
Clay lupfte ironisch die Augenbraue. “Sollten Tagebücher nicht Privatsache sein?”
“Mir hat sie’s jedenfalls überlassen.” Hunter nahm das Büchlein wieder an sich, schlug es auf und las laut vor: “‘Katie hat schon wieder eine wunde Stelle am Hals. Sie will nicht sagen, woher sie die hat. Daddy meint, es muss sie jemand an ihrer Halskette gezogen haben. Wieso macht sie so ein Geheimnis daraus?’“
Clay sah ihn unter schweren, halb gesenkten Lidern hervor an. “Ja, und? Da hat Katie sie offenbar wegen einem kleinen Kratzer angelogen. Was soll das beweisen?”
Hunter blätterte einige Seiten um und las noch einen Eintrag vor. “‘Ich bin stinksauer auf Mom. Daddy wollte mit mir nach Jacksonville fahren und seine Cousine besuchen. Wir wollten da zwei volle Tage bleiben. Aber sie hat mich nicht mitfahren lassen. Als ich anfing zu weinen, hat sie mich ganz doll durchgeschüttelt.’ Na, und was sagen Sie dazu?”
“Nach allem, was man hört, war die Mutter von Madeline nicht ganz richtig im Kopf”, knurrte Clay tonlos. “Hat ja auch Selbstmord begangen. Wirklich tragisch.”
“Ich glaube, wenn einer krank war, dann eher Maddys Vater”, erwiderte Hunter bedeutungsvoll. “Ich frage mich nur,
wie
krank.”
Clay wandte den Blick ab und starrte die Kerze an, die an der Tischkante in einem roten Votivglas flackerte. “Ich weise Sie vorsichtshalber darauf hin, dass Sie sich mit solchen Aussagen hier nicht beliebt machen werden.”
“Ich will ja hier auch nicht Bürgermeister werden.”
Clay schwieg.
“Wann haben Sie’s gemerkt?”, fragte Hunter.
“Gemerkt? Was?”
“Was er mit ihrer Schwester anstellte.”
Clay wirkte zwar locker, doch nach Hunters Gefühl vermittelte er diesen Eindruck nur mit allergrößter Mühe. “Er hat nichts mit ihr angestellt. Fragen Sie doch Chief Pontiff. Dem hat Grace das letzte Woche erst gesagt.”
“Und wenn ich sie selbst frage?”
“Nur über meine Leiche.”
Hunter ließ die Bemerkung unkommentiert. Er hatte nicht die Absicht, Grace zu befragen. Sie hatte mit Sicherheit genug gelitten. Deshalb hatte er ja nicht sie, sondern Clay angerufen. Er hatte Clays Reaktion testen wollen – und die hatte sich als genau so erwiesen, wie er es erwartet hatte.
Hunter räusperte sich und schlug eine weitere Stelle im Tagebuch auf. “’Ich habe in Daddys Schublade eine Zeitschrift mit einer nackten Frau drin gefunden. Und auf der lag ein Mann.’“
Clay verzog die Lippen zu einem Schmunzeln – eher nostalgisch allerdings.
“Interessant, was?”, fragte Hunter. “Im Schreibtisch ihres Vaters findet sie Pornohefte. Bei jemandem, der in seinen Predigten so energisch gegen die Fleischeslust wettert.”
“Als wir Kinder waren, da hat sie uns von den Dingern erzählt.” Immer noch umspielte dieses merkwürdige Lächeln seine Lippen. “Da fand
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