Totgeschwiegen
sie.
Otis Archer fuhr sich mit der Hand übers Kinn. Er hatte sich noch nicht rasiert, weil er lieber gleich nach dem Aufstehen den Rasen mähte, bevor es in der Sonne zu heiß dafür geworden war. Von seiner Kleidung ging noch immer der Duft von frischem Heu aus. Camille hatte versucht, ihn davon abzubringen. Sie sorgte sich sehr um seine Gesundheit und hoffte, das Krebsgeschwür konnte bezwungen werden. Ein Leben ohne ihren Mann konnte sie sich gar nicht vorstellen. Tagein, tagaus bat sie ihn, sich nicht zu übernehmen. Kennedy hatte versprochen, sich heute Abend um den Rasen zu kümmern, weil seine Jungs noch nicht alt genug für eine solche Arbeit waren. Aber Otis war nicht fürs Herumsitzen geschaffen. Solange er noch atmen konnte, würde er an irgendetwas arbeiten. Sie vermutete, dass er das für seinen Seelenfrieden brauchte. Er schien es zu genießen, sich einfachen Tätigkeiten widmen zu können, jetzt, wo er nicht gesund genug war, um längere Zeit im Büro zu verbringen. Immerhin ging er alles gemächlich an und kam oft ins Haus, um sich auszuruhen.
“Klingt für mich ganz danach, als hätte er sich in sie verliebt”, sagte er schlicht.
“Er und Raelynn waren ein gutes Paar. Vielleicht will er sich ja nur über die Leere hinwegtrösten, die sie hinterlassen hat.”
“Ich glaube, es ist mehr als das. Er kämpft dagegen an, aber seit Raelynns Tod hat keine andere Frau es geschafft, ihm derart den Kopf zu verdrehen.” Otis schaute ins Leere und blickte dann seine Frau wieder an. “Und wenn ich es nicht schaffen sollte …”
Sie schnitt ihm das Wort ab. “So sollst du nicht reden!”
“Hör mir doch mal zu”, sagte er freundlich. “Wenn ich es nicht schaffen sollte, möchte ich mit der Gewissheit sterben, dass mein Sohn glücklich ist.”
“Aber soll man das schnelle Glück für späteres Leid in Kauf nehmen?”
“Sie war doch erst dreizehn, als Lee Barker verschwand. Ich nehme an, dass sie wirklich so unschuldig ist, wie sie behauptet.”
“Und ihre Familie?”
“Es wird Zeit, dass die Leute hier in der Stadt die Vergangenheit ruhen lassen und in die Zukunft blicken.”
“Das lässt sich leicht sagen. Aber wir haben dem Reverend ja auch nicht so nahe gestanden.”
“Ich möchte, dass wir Kennedy unterstützen. Durchaus möglich, dass das das Letzte ist, was ich für ihn tun kann.”
Camille hatte sich inzwischen mehrmals mit Grace unterhalten und fing an, sie zu mögen. Auf die Gerüchte, die über sie in Umlauf waren, gab sie immer weniger. Heath und Teddy verehrten ihre neue Nachbarin, und Kennedy war zumindest sehr von ihr beeindruckt.
“Wenn er uns nur diesen Beweis zeigen könnte, von dem er gesprochen hat”, sagte sie. “Dass er Joe angegriffen hat, seinen Freund, der ihm mal das Leben gerettet hat, zeigt doch, dass er alles tun will, um ihr zu helfen. Aber ich glaube, es wäre besser für alle Beteiligten, wenn die Wahrheit ans Licht käme. Nur dann werden sie wirklich zusammenkommen können.”
Otis zuckte vor Schmerzen zusammen, als er sein Gewicht verlagerte, und Camille begann erneut, sich Sorgen zu machen.
“Ist alles in Ordnung?”
Er lächelte dünn. “Mach dir doch nicht so viele Sorgen. Mir geht’s gut.”
“Vielleicht solltest du dich besser hinlegen …”
Er hob eine Hand, um ihr Einhalt zu gebieten, und kam wieder auf ihr eigentliches Thema zurück. “Kannst du Kennedy nicht davon überzeugen, wenigstens dir zu erzählen, was für ein Beweis das ist?”
“Ich glaube nicht. Ich hab’s ja versucht.”
“Soll ich vielleicht mal mit ihm reden?”
Camille glaubte, dass Otis seinem Sohn die Wahrheit entlocken könnte. Wenn jemand dazu in der Lage war, dann er. Aber sie wollte nicht, dass Kennedy sich zwischen der Frau, die er liebte, und dem Vater, den er verehrte, entscheiden musste. Wenn sie nur wüsste, worum es ging, würde sie wissen, wie sie ihm helfen konnte. Und wenn es nicht der Rede wert war, konnte man es auch einfach wieder vergessen. “Vielleicht später”, sagte sie. “Ich werde mit Buzz sprechen.”
“Meinst du, dass Buzz irgendwas darüber weiß?”, fragte Otis überrascht.
“Er ist doch seit vielen Jahren eng mit Kennedy befreundet. Wenn jemand etwas weiß, dann er.”
“Habt ihr Joes Gesicht gesehen”, fragte Grace, als sie zusammen mit Madeline und Irene das Footballstadion von Stillwater betrat. Sie hatten einen Korb mit Proviant und eine Picknickdecke dabei. Dass einer der Kandidaten für das Bürgermeisteramt
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