Totgeschwiegen
mitten in der Nacht ihr Haus verlassen hatte, um den Mann zu verprügeln, der ihm einst das Leben gerettet hatte, war der Skandal des Tages in der kleinen Stadt. Nachdem sie mitbekommen hatte, dass in der ganzen Stadt über sie getratscht wurde, wäre Grace viel lieber zu Hause geblieben. Aber ihre Schwester und ihre Mutter hatten sie bearbeitet, und außerdem hatten Teddy und Heath angerufen, um sich zu versichern, dass sie auch wirklich zum Feuerwerk kam. Vor allem die beiden Jungs wollte sie nicht enttäuschen.
“Bis jetzt noch nicht”, sagte Madeline. “Aber ich habe schon viel darüber gehört. Er soll ja schrecklich aussehen. Ich hab sogar gehört, dass er Kennedy wegen Körperverletzung verklagen will.”
“Damit wird er nicht durchkommen”, sagte Grace. “Joe ist auf mein Grundstück eingedrungen. Außerdem kennt Richter Reynolds die beiden sehr gut.”
“Und in dieser Stadt hat man kein so großes Problem mit einer handfesten Auseinandersetzung”, fügte Madeline hinzu. “Das passiert auch hin und wieder in einer der Kneipen. Solange es sich zwischen erwachsenen Männern abspielt und niemand ernstlich verletzt wird, macht die Polizei keine große Sache daraus. Vor allem dann, wenn es sich bei einem Beteiligten möglicherweise um den zukünftigen Bürgermeister handelt.”
“Kennedy ist glimpflich davongekommen, aber Joe hat es ganz schön erwischt”, stellte Irene befriedigt fest. “Sein Nasenbein ist gebrochen und angeschwollen, er hat eine Schnittwunde an der Wange, und beide Augen sind blau geschlagen.”
“Klingt, als sei diese Runde an Kennedy gegangen”, sagte Madeline.
“Ein verdienter Sieg für einen anständigen Mann”, urteilte Irene resolut.
Grace empfand es auch so, aber dennoch fühlte sie sich wegen der Angelegenheit gar nicht gut. Kennedy hatte schon am frühen Abend erklärt, er wolle lieber nach Hause gehen, aber sie hatte ihn überredet, länger zu bleiben. Und die ganze Sache war sowieso nur ihretwegen passiert.
Madeline wechselte den Picknickkorb von einer Hand in die andere. “Aber es wundert mich doch, dass Kennedy zu so einem Gewaltausbruch fähig ist.”
“Sonst wirkt er doch immer so zurückhaltend und vernünftig.”
Sehr vernünftig ist er letzte Nacht nicht gewesen, dachte Grace. Sie hatten beide alle Hemmungen verloren und sich ganz ihrem Liebesakt hingegeben; sie hatten gewusst, dass ihre Affäre damit beendet war.
“Was hat ihn nur so wütend gemacht?”, fragte Madeline.
“Ich weiß es nicht genau”, gab Grace zu. “Ich hörte die lauten Stimmen und bin aus dem Haus gerannt, aber da lag Joe schon blutend auf dem Boden.”
“Und Kennedy war nicht verletzt?”, fragte Irene.
Grace senkte die Stimme, als sie sich den anderen Picknickgästen näherte. “Gestern Nacht ging es ihm noch gut, aber Teddy hat mir erzählt, dass sein Vater eine geschwollene Hand hat.”
“Hoffentlich hat er sich nichts gebrochen”, meinte Irene.
Madeline suchte ihnen eine schöne Stelle auf dem Rasen und breitete die Decke aus. “Nein, er hat sich röntgen lassen. So wie es aussieht, ist es nur eine Prellung.”
“Dann können wir uns ja freuen, dass Joe das bekommen hat, was er verdient”, sagte Irene.
Grace hätte sich mehr gefreut, wenn sie das hasserfüllte Blitzen in Joes Augen letzte Nacht nicht bemerkt hätte. Er würde sich für die erlittene Schmach rächen, das war keine Frage.
Cindy saß mit ihrer Schwester auf einer Decke in der Nähe. Als Grace sie bemerkte, wäre sie lieber woandershin gegangen. Cindy hatte sie schließlich aufgefordert, sich von Kennedy fernzuhalten, und statt diesen Rat zu befolgen, hatte sie ihm nichts als Probleme beschert.
Sie schämte sich deswegen. Aber es gab keinen anderen Platz, zumindest keinen, an dem sie unter sich gewesen wären.
Jedermann
schien über sie zu reden und ihr verstohlene Blicke zuzuwerfen.
“Ich hasse das”, murmelte sie.
“Wirklich?”, fragte ihre Mutter. “Ich finde es toll. Triffst du dich wieder mit Kennedy, wenn das Feuerwerk vorbei ist?”, fragte sie möglichst laut, während sie die Picknicksachen auspackte.
“Hör auf damit”, zischte Grace. “Ich werde mich bestimmt nicht mit ihm treffen.” Aber dann bemerkte sie ihn nicht weit entfernt auf einer Decke. Er trug ein T-Shirt und weit geschnittene Shorts. Beides betonte seinen muskulösen Körper. Unwillkürlich musste sie an das denken, was letzte Nacht passiert war, und spürte, wie sie krebsrot anlief.
Er schaute zu ihr
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