Totgeschwiegen
Kennedy bewegte sich keinen Millimeter, aber er sah sie intensiv an. “Sie fing an, ihn zu beschimpfen, und drohte, sie werde zur Polizei gehen, sie werde allen erzählen, was für ein ekelhafter Dreckskerl er sei, und er … er hielt es einfach nicht aus. Sein makelloses Auftreten war ihm doch das Wichtigste. Er leugnete es, immer und immer wieder. Aber meine Mutter wusste, was geschehen war … endlich wusste sie es.” Sie sprach immer schneller, als wäre ein Damm gebrochen, und nun ergossen sich die drängenden Fluten durch die Öffnung. “Der Streit wurde immer heftiger, und schließlich wurde es ganz schlimm. Er fing an, sie zu verprügeln. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich versuchte ihn aufzuhalten, aber er schleuderte mich zur Seite und schlug weiter auf sie ein. Dann kam Clay nach Hause und …” Sie schnappte nach Luft. “… und stellte sich zwischen sie, um sie zu schützen und um mich zu schützen.”
“Und da ist Barker auf ihn losgegangen?”
Sie nickte. “Meine Mutter musste ihn zurückhalten, von … von meinem Bruder wegholen.”
“Und wie hat sie das gemacht?”
“Sie hat ihm mit dem schweren Messerblock aus der Küche auf den Kopf geschlagen.”
“Und dann?”
“Er ist zusammengebrochen. Und blieb auf dem Küchenboden liegen. Wir … wir haben doch nicht im Traum gedacht, dass er tot sein könnte. Aber da war auf einmal so viel Blut und …” Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten. “Er bewegte sich nicht mehr, atmete nicht mehr. Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Wir konnten ja nicht die Polizei anrufen. Niemand in der Stadt mochte uns. Keiner würde uns glauben, dass es ein Unfall war. Meine Mutter hatte Angst, ins Gefängnis zu kommen und dass die ganze Familie auseinandergerissen würde …”
“Die Barkers und die Vincellis hätten eine derartige Erniedrigung niemals hingenommen und alles unternommen, um sich an euch zu rächen”, sagte Kennedy.
“Ja, und er war doch der Reverend! Ein Mann, der über alles erhaben war! Alle würden Rache fordern. Es war doch ein Unfall, Kennedy, aber es wäre nie passiert, wenn es mich nicht gegeben hätte. Den Streit hatten sie doch nur wegen mir!”
Sie brach ab, und beide schwiegen. Kennedy starrte sie an. Er schien geschockt, dass sie tatsächlich ihr Schweigen gebrochen hatte. Nach achtzehn Jahren!
Grace konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie rannen ihr übers Gesicht, und sie schaute ihn an, zutiefst erschüttert von dem, was sie ihm gerade anvertraut hatte. Aber er wollte nicht, dass sie vor ihm Angst hatte, er wollte ihr Halt geben und Vertrauen.
“Du warst erst dreizehn.”
“Ich werde das nie vergessen. Molly hockte verängstigt in einer Ecke und weinte vor sich hin. Meine Mutter schrie hysterisch. Und Clay übernahm ganz ruhig die Kontrolle und entschied, was getan werden musste. ‘Wir werden ihn vergraben’, hat er gesagt.”
Grace fragte sich, ob Kennedy ihr jemals wieder in die Augen schauen könnte wie zuvor, wie vor ihrem Geständnis. Aber er strich ihr tröstend über die Wange. “Ich möchte nicht, dass das zwischen uns steht. Ich werde alles tun, um dir zu helfen”, versprach er und küsste ihr die Tränen vom Gesicht. Dann nahm er die Kondome, warf sie in den Mülleimer und kniete sich zwischen ihre Schenkel, um sein Versprechen wahr zu machen.
Nachdem er eins der kleineren Fenster auf der Rückseite von Evonnes Haus eingeschlagen hatte, zog er sein T-Shirt aus, schlang es um seine Hand und den Unterarm und fasste durch das Loch hindurch, um den Türknauf zu betätigen. Er hatte erwartet, dass der Lärm Grace wecken würde. Er sah sie schon vor sich, wie sie ganz verschlafen die Treppe aus dem oberen Stockwerk herunterkam. Er hatte sich genüsslich ausgemalt, wie sie erschrecken würde, wenn sie ihn erkannte, und panisch nach Hilfe schreien, obwohl niemand da war, der ihr helfen konnte.
Aber niemand kam, und nichts war zu hören.
Die Bibel seines Onkels unter den Arm geklemmt, schloss er die Tür und tastete sich durch das dunkle Zimmer voran. Es ist bestimmt noch besser, wenn ich sie im Bett überrasche, entschied er und grinste vor sich hin, als er sich vorstellte, wie sie vor ihm auf die Knie fallen würde. Er würde ihr schon sagen, was sie tun konnte, um ihn davon abzuhalten, zur Polizei zu gehen. Und dann, wenn er mit ihr gemacht hatte, was er wollte, würde er die Bullen trotzdem rufen.
Sie hatte sich gegen ihn gestellt, und nun würde er dafür Rache nehmen.
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