Tränen der Lilie - Seelen aus Eis (Bianca Balcaen: Geisterkrieger-Serie) (German Edition)
sprechen begann.
»Sie ist eine
Chinook. Als ihr Kopf zurück ins Kissen fiel, habe ich die
Tätowierung hinter ihrem Ohr gesehen. Ein Kreis mit zwei
Kreolen. Das ist das Zeichen, das nur die heiligen Seherinnen
des Chinook Stammes tragen dürfen. Sie sind in der Lage, starke
telepathische Visionen zu empfangen. Man sagt, sie sind den
mystischen Sirenen sehr ähnlich, da sie sich nur untereinander
verständigen können. Nur weibliche Wesen sind in der Lage ihre
Träume und Visionen zu empfangen. Männern ist ihre Gedankenwelt
verschlossen.«
»Dann sollten wir
Mutter holen«, erwiderte Michael.
»Sie ist schon auf
dem Weg.«
»Meinst du, dass
sie in die Gedanken der Indianerin blicken kann?«
»Nein. Ich denke
nicht, das Gladys das zulassen wird. Aus irgendeinem Grund hat
sie Amy ausgesucht. Wir können nur hoffen, dass die
Verbundenheit zwischen Amy und Mahu stark genug ist, sodass sie
durch sie die Visionen mitfühlen kann«, vermutete Milton. Er
stand auf und blickte Mahu dankbar an, als sie durch die riesige
Schiebetür trat. Milton wies mit einem Nicken auf das lange,
beige Sofa im Flur. Mahu setzte sich in die Mitte und Milton
nahm an ihrer rechten Seite Platz. Stumm nickte sie ihm zu,
schloss die Augen und versuchte sich mit einer langsamen Atmung
zu konzentrieren.
Sie waren zusammen
schon durch so viele Jahrhunderte gegangen und schon so lange
verheiratet, dass sie sich ohne Worte verstanden. Michael, der
bis dahin unruhig hin und her gewandert war, setzte sich jetzt
an die linke Seite seiner Mutter und verhielt sich auch ruhig,
damit Mahu die Ruhe bekam, um sich mit Amys Aura zu verbinden.
Damit sie durch sie fühlen konnte, was gleich passieren würde.
****
Als die Tür hinten
den beiden Männern ins Schloss fiel, schien die alte Frau
erleichtert aufzuatmen. Ihre Augen waren jetzt direkt auf Amy
gerichtet und aller Nebel war aus ihrem Blick verschwunden. Amy
überwand ihre Angst und trat langsam näher an das Bett
heran.
»Gladys, was
möchten sie mir sagen? Ich höre ihnen zu, wir sind jetzt
alleine. Nur sie und ich.«
Stumm betrachtete
sie die Frau. Ihr Alter war schwer einzuschätzen, da ihre
Identität noch immer unbekannt war. Aber sie musste ein schweres
Leben geführt haben, wovon ihre unzähligen, runzeligen Falten in
ihrem wettergegerbten und dunklen Gesicht zeugten.
Ihr kleiner Körper
wirkte ausgemergelt und hob sich kaum unter den weißen Laken ab.
Und doch strahlte sie trotz ihres desolaten Zustandes eine Aura
aus, die gütig und weich war. Amy blickte in ihre jetzt
glasklaren Augen, die drängend auf sie gerichtet waren.
Doch als sie zu
sprechen versuchte, entrang sich ihrer Brust nur ein heiseres
Flüstern. Amy musste sich noch tiefer zu ihr runter beugen, um
sie verstehen zu können.
»Kimimala, so ist
doch dein indianischer Name, nicht wahr? Ich kann nicht mit dir
sprechen… er ist hier… er hat mich gefunden. Er kann uns hören, aber er ist nicht in der Lage meine Visionen zu lesen.
Meine Gedanken sind das einzige, was ich noch habe. Und du mein
Kind, du kannst sie spüren. Öffne deinen Geist und ich werde dir
alles zeigen, was ihr wissen müsst.«
Mit einer
überraschend hartnäckigen Geste packte sie Amys Hand und zog sie
noch näher an ihren Mund heran.
»Du darfst auf gar
keinen Fall Fragen stellen, sonst wird sich meine Vision sofort
auflösen, hast du das verstanden? Nimm das, was du sehen wirst
einfach in deinen Geist auf. Lass es zu und wehre dich nicht
dagegen, bitte… Wenn du die salomonischen Wesen siehst, dann
höre nicht auf meine Hand zu halten. Er wird dir jetzt noch
nichts tun.«
Beschwörend
blickte sie Amy in die Augen.
»Du wirst das
alles nicht begreifen, aber Milton Cheveyo und sein Sohn werden
die Bedeutung meiner Vision verstehen und danach handeln können.
Und jetzt entspann dich und setz dich neben mich.«
Amy biss sich auf
die Unterlippe und starrte sie verwirrt an. Das Milton sie mit
dieser Frau alleine gelassen hatte, deutete sie als ein
ungefährliches Zeichen. Angespannt zog sie mit dem Fuß den
Rollhocker näher an das Bett. Von Entspannung konnte keine Rede
sein, denn sie merkte, wie ihr Körper vor Aufregung bebte.
Unsicher blickte sie auf die alte Frau, die nun mit eisernem
Griff ihre linke Hand umschlang.
»Schließ die
Augen, mein Kind«, flüsterte sie lautlos und Amy gehorchte
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