Tränen des Mondes
blauen Augen nach Kandidaten aus, von denen Hilfe zu erwarten wäre. Dann ließ sie sich vom Kabinenpagen einen Gepäckträger holen. Ein unternehmungslustiger junger Inder, ein Verwandter der Mettas, war der erste bei ihrem Gepäck.
»Es kommen noch mehr Koffer, ich hoffe, es stehen Wagen bereit.«
»Natürlich, Mem, viele Sulkys und Kutschen, die Sie können fahren zu Hotel. Kein Problem.«
»Ich fahre nicht zu einem Hotel. Ich fahre zum Haus meines Gatten.«
»Ganz wie belieben, Mem.« Er keuchte voraus, lud die ersten Taschen in ein Sulky und half ihr beim Einsteigen.
Sie öffnete ihren Sonnenschirm. »Mir ist sehr heiß. Könnten Sie den Rest meines Gepäcks später holen?«
Der junge Mann zögerte, der Kutscher zuckte mit den Achseln. »Ganz wie belieben, Mem. Wo Sie wohnen?«
»Bei Kapitän John Tyndall. Dem Perlenbaron. Ich bin seine Frau – Mrs. Amy Tyndall.«
Der Gepäckträger und der Kutscher starrten sie an.
»Kapitän Tyndall? Er weiß, daß Sie kommen?« fragte der Kutscher, ebenfalls ein Inder.
Sie lächelte geziert. »Nein. Das ist eine Überraschung. Ich komme direkt aus London und bin um die halbe Welt gefahren.«
Als das Sulky anfuhr, schlüpfte der Gepäckträger durch die Menge. Statt die Koffer mit der Aufschrift »Mrs. Amy Tyndall« zu holen, rannte er die
Dampier Terrace
entlang, schnurstracks zum Büro der
Star of the Sea
und polterte die Treppe hoch.
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Sechzehntes Kapitel
T yndall hatte Schwierigkeiten zu begreifen, was der schwitzende Gepäckträger ihm da erzählte. Er konnte es kaum glauben, es war einfach zu ungeheuerlich.
Die atemlosen Worte des Trägers überschlugen sich: »Weiße Lady, gelbe Haare, schöne Kleider, sagt, sie ist Frau von Kapitän Tyndall, läßt sich fahren von meinem Bruder zu Ihrem Haus. Der sagt mir, ich soll Kapitän Tyndall Bescheid geben, aber hopp. Ich hab ihren Koffer in Kutsche geladen.« Der Junge rang die Hände, man merkte ihm deutlich an, wie unangenehm es ihm war, daß er eine so unwillkommene Nachricht überbringen mußte.
Tyndall warf ihm eine Münze zu und dankte ihm. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und schloß die Augen.
Er sah sich wieder als zaudernden jungen Mann, den Amys kokette blaue Augen, ihr lachender Mund und ihr wollüstiger Körper in ihren Bann gezogen hatten. Sein Vater hatte ihn gewarnt, er solle sich von einem ›solchen Mädchen‹ fern halten, doch sie wußte es geschickt einzufädeln, daß sie ihm überall über den Weg lief. Es dauerte nicht lange, bis sie ihn verführt hatte, und er spielte nur allzu willig mit. Wie naiv er damals gewesen war! Als sie merkte, daß sie schwanger war, brach sie in Tränen, Geheul und Gejammer aus. Also nahm er, nachdem er den Schock überwunden hatte, die Verantwortung auf sich und heiratete das hübscheste Mädchen aus dem Dorf.
Er erinnerte sich an das wackelige, schmale Bett, das rauchige, verdreckte Häuschen, das Gehuste ihres angetrunkenen Vaters. Bald hatte er erkannt, daß seine Angetraute faul und verwöhnt war. Ihr ewiges Genörgel, ihr Gejammer und ihr aufbrausendes irisches Temperament trieben ihn bald auf Arbeitssuche nach Belfast und dann nach London. Er wollte ja eine gute Ehe führen und hoffte, die Lage würde sich verbessern, wenn sie allein unter sich wären. Er erinnerte sich an die Freiheit, die er auf See empfand, und an die Schuldgefühle, wenn er seine junge Frau verließ. Er hatte nie die Absicht, sich vor den Pflichten zu drücken, die er Amy gegenüber hatte. Aber auf See ließ sich einfach mehr verdienen. Die Nachricht vom Tod des Kindes und Amys Verschwinden, das wahrscheinlich auch ihren Tod bedeutete, machte ihn traurig, erleichterte ihn aber auch und befreite ihn von seinen Schuldgefühlen.
Daß Amy nun wieder in sein Leben hereinplatzte, rührte heftige Gefühle in ihm auf, in seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Tyndall empfand heißen Zorn. Warum kam sie ausgerechnet jetzt zurück, wo er kurz vor der Vereinigung mit Olivia stand, der Frau, die er sich immer ersehnt hatte?
Er setzte sich kerzengerade auf. Mein Gott! Er mußte der erste sein, von dem Olivia die Nachricht erfuhr. Was für ein Alptraum! Ihm wurde klar, daß er dem Gesetz nach immer noch mit Amy verheiratet war, es sei denn, sie hätte nach seinem Verschwinden vor so vielen Jahren die Ehe für ungültig erklären lassen. Doch ihm sank das Herz bei der Erkenntnis, daß sie hier war und den Anspruch erhob, seine Frau zu sein. Gut, dem mußte er einen Riegel
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