Traenenengel
Rahmen, den Lenker und blieb ganz vorne hängen, dort, wo der Rahmen im Kettenantrieb mit den Pedalen endete.
Sälzer stutzte. Dann bückte er sich, schob das Basecap ein Stück in den Nacken. Er hatte richtig gesehen. Auf dem letzten
Stück des Rahmens waren zwei dunkelrote, fast bräunliche Flecken zu erkennen, hoben sich deutlich vom Hellgrau ab. Sälzer
betrachtete sie noch ein paar Sekunden, dann richtete er sich wieder auf. »Fährt Ihr Sohn oft mit dem Rad?«
Felber zuckte mit den Schultern. »Was heißt oft?Ab und zu eben. Meistens nur hier im Dorf, mal zum Angeln oder rüber zu Rainers Garage.«
»Wissen Sie noch, wann er das letzte Mal damit gefahren ist?«, fragte Sälzer und kam wieder auf Felber und Masaryk zu.
»Keine Ahnung. Ich kontrolliere meinen Sohn doch nicht auf Schritt und Tritt. Er ist alt genug. Bei dem Mistwetter wird es
aber eine Weile her sein.«
»Wir funken gleich noch mal die Kollegen an. Die werden mit dem Bus kommen und das Liegerad mitnehmen. Nichts anfassen bis
dahin«, sagte Sälzer und gab Masaryk ein Zeichen.
»Was, zum Teufel noch mal, soll das alles?« Felber stieß die Heugabel auf den Boden. »Sagen Sie mir jetzt endlich, was Sie
von meinem Sohn wollen?«
Masaryk zögerte und sah kurz zu Sälzer. Als der kaum merklich nickte, sagte er: »Es geht um letzten Mittwoch. Genauer gesagt
um Mittwochabend.«
Felbers Augen weiteten sich. Sein Mund ging ein paarmal auf und zu, ohne dass ein Ton herauskam. »Die Sache mit dem Mädchen
am See?«
Masaryk nickte kurz.
»Was hat Patrick damit zu tun?«
»Flora Duve. Sie geht in die Parallelklasse von Ihrem Sohn.«
»Das tun etliche andere auch.« Wilbert Felber schob den Gauchohut ein paar Zentimeter nach oben und wischte sich mit dem Handrücken
den Schweiß von der Stirn.
»Können Sie sich erinnern, was Ihr Sohn am Abend des 2. Juli gemacht hat?«, fragte Sälzer.
»Letzten Mittwoch?« Felbers Augenlider zuckten. Sein Blick flog von einer Hofecke zur anderen. »Weiß nicht. Wahrscheinlich
war er in seinem Zimmer. Hat gelernt oder ferngesehen.«
»Sind Sie sich sicher?«, fragte Sälzer.
»Ja, ja, doch, jetzt erinnere ich mich, wir haben zusammen diese Millionärssendung mit dem Jauch gesehen.«
»Die kommt montags und freitags«, sagte Masaryk.
»Dann war es eben eine Wiederholung.« Felber fuhr sich mit der Hand über den Hals.
»Herr Felber, jemand hat Ihren Sohn am Mittwochabend noch spät in der Nähe des Sees gesehen«, sagte Masaryk.
»Aber ... dann hat sich dieser Jemand eben verguckt.«
»Das ist sehr unwahrscheinlich«, wandte Masaryk ein. »Herr Felber, Ihr Sohn ist womöglich ein wichtiger Zeuge.«
»Wo finden wir Patrick jetzt?«, fragte Sälzer.
Wilbert Felber sah den Polizeihauptmeister einen Moment unentschlossen an. »In der Schule. Heinrich-Heine-Schule. Gabelhoferstraße«,
sagte er dann langsam.
***
Sälzer war alleine zur Heinrich-Heine-Schule gefahren, während sich Masaryk um die Blutspuren am Liegerad kümmerte.
Er wollte Patrick Felber nicht aus dem Unterricht holen. Er erinnerte sich noch, dass er das früher, als er selbst noch ein
Schüler gewesen war, gehasst hatte. Nicht, weil er etwas vom Unterricht verpasste. Aber mit jeder Minute, die er nicht im
Klassenzimmer war, wurden die Spekulationen darüber immer wilder, wohin, zu wem und warum er aus dem Unterricht geholt worden
war.
Aber als Sälzer in der Schule ankam, hatte die Stunde gerade begonnen. Das Lehrerzimmer war bis auf eine Referendarin verwaist,
bei der weder Flora Duve noch Patrick Felber Unterricht hatten und die somit für Sälzer als Gesprächspartnerin nicht interessant
war. Zumindest, was die Ermittlungen betrafen. Außerdem hatte sie Besseres zu tun, als einem Polizeibeamten mit Bauchansatz
das Warten zu verkürzen. Vor allem aber konnte Sälzer nicht warten. Nicht, wenn die dunkelroten Flecken auf Patricks Liegerad
tatsächlich Blutspuren waren. Woran Sälzer keinen Zweifel hatte. Die Frage war nur, wessen Blut es war.
Sälzer stellte sich mit dem Rücken an den Lehrertisch und stützte sich mit beiden Händen darauf ab. Patrick Felber lehnte
vor ihm in der ersten Reihe mit verschränkten Armen und übereinandergeschlagenenFüßen an einem Tisch. In der letzten Reihe neben dem Fenster saß Frau Dr. Kreisler. Sie war Patricks Geografielehrerin, stand kurz vor der Pensionierung und saß der Vernehmung als Vormund bei. Sie
hatte ihre Brille, an deren Bügeln eine
Weitere Kostenlose Bücher