Träum süß, kleine Schwester
Pupille. Er war wirklich attraktiv, befand Jen; ihr gefiel sein flott geschnittener Anzug, die Hose mit der tadellosen Bügelfalte, die den heißen Nachmittag auf den Bermudas unbeschadet überstanden hatte, die makellos weißen Schuhe. Einmal hatte sie Dick seinen zerknitterten Anzug vorgeworfen und zur Antwort bekommen, gerade das gäbe ihm doch einen gewissen jungenhaften Charme.
Mit einem Ruck war sie wieder bei der Sache. Sie mußte diesen jungen Mann irgendwie prüfen, versuchen, sich ein Bild von ihm zu machen. Ihr fiel sein Vater ein, der angeblich einen Herzanfall erlitten hatte. »Sie sind doch sicher schrecklich in Sorge um Ihren Vater.«
Er nickte. »Ich werde den Gedanken nicht los, daß es nicht passiert wäre, wenn ich mich ein bißchen mehr ums Geschäft gekümmert und er statt dessen Urlaub genommen hätte. Aber ich sollte Sie nicht mit meinen Sorgen behelligen.«
»Das tun Sie keineswegs«, entgegnete Jen. »Versuchen Sie, nicht so viel zu grübeln. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie sich das Telegramm anhörte.«
Sie setzte ihren Rundgang fort. Wieder eine Niete, dachte sie. Der besorgte Sohn, der sich Vorwürfe macht, weil er Urlaub genommen hat, während sich sein Vater totarbeitet. Sie blickte zurück und bemerkte eine kleine Reißverschlußtasche, wie sie die Fluggesellschaft an die Passagiere ausgab, im Gepäcknetz über Andrew Clintons Platz. Sie fragte sich, wenn er die Zeitschrift hätte, würde er es dann riskieren, die Tasche dort zu deponieren? Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. Beide, er und Hastings, wirkten so vertrauenswürdig. Vielleicht Carlson …
Sie stand vor ihm, hielt ihm die Karte hin. Der dunkelhaarige Mann in dem offenbar viel zu schweren Anzug und den blitzblank gewienerten Schuhen blickte ratlos auf die Karte, doch als sie ihm den Zweck erläuterte, griff er beflissen danach. »Mein Sohn kennt sich mit all diesen Sachen aus. Er arbeitet im Princess Hotel. Eines Tages wird er’s dort zum Oberkellner bringen.« Er legte die Karte auf die Knie, zog umständlich seine Brieftasche heraus und entnahm ihr ein Foto, das eine jüngere Ausgabe von ihm zeigte. »So sieht er in der Uniform aus.«
Jen betrachtete das Foto. »Er ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Der kleine Mann reckte sich stolz. »Das sagt jeder. Er hat mir das Geld für die Reise geschickt und einen Brief dazu geschrieben.« Er holte ihn hervor.
»Papa, mach den Laden dicht und komm zwei Wochen her. Hier unten ist’s wie im Paradies.«
Brief und Foto wurden wieder verstaut, die Flugkarte an Jen ausgehändigt.
Abermals ein offensichtlicher Fehlschlag. Dieser Passagier hatte eine abgewetzte schwarze Tasche, die unter dem Sitz hervorragte. Vielleicht waren die Listen darin versteckt, und er spielte nur etwas penetrant den stolzen Vater; aber höchstwahrscheinlich enthielt die Tasche billige Souvenirs für seine Freunde daheim.
Sie beendete rasch ihre Runde bei den übrigen Passagieren ging dann zum Wasserbehälter und schenkte sich ein Glas ein. Die Zeit verrann. Jede Propellerdrehung brachte das Flugzeug näher nach New York, und sie hatte immer noch keinen bestimmten Verdacht, welcher von den dreien der Dieb war. Dicks Gesicht verfolgte sie. Und all diese namenlosen Menschen, deren Angehörige auf dem Flugzeugträger gewesen waren, schienen sie anklagend zu umringen.
Sie wollte losschreien: Bitte, lieber Gott, hilf mir! Sie trank das Wasser und schaute nach vorn. Allan hatte die obere Hälfte der Küchentür geöffnet, während die untere zum Abstellen der Tabletts diente.
Jen ging nach hinten, kämmte sich die Haare, zog die Lippen nach und wusch sich die Hände. Angewidert betrachtete sie den Ölfleck am Ärmel, doch dann erhellte sich ihre Miene. Sie erinnerte sich, wie vorsichtig sie hantiert hatte, als sie ihre Tasche im Kühlschrank versteckte, wie sie unbedingt vermeiden wollte, mit dem Salat in Berührung zu kommen – und trotzdem hatte sie den Fleck am Ärmel. Wer immer nach ihrer Tasche gesucht hatte, mußte sie sekundenschnell herausgeholt und die Papiere entnommen haben. Ihm war keine Zeit zur Vorsicht geblieben, so daß er sich sehr wohl auch einen Fleck am Ärmel eingehandelt haben könnte. Es war nur eine winzige Chance, ein schwacher Hoffnungsschimmer, aber der erste greifbare Hinweis, der sich bot.
Hastings, der Banker, hatte sein Jackett ausgezogen und zusammengefaltet unter die ringsum verstreuten Papiere gelegt. Gab es dafür einen Grund?
Andrew Clinton
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