Traeum weiter, Mann
zu fokussieren.
Für einen Augenblick verharrt sein Blick starr am Horizont. Dann schüttelt er den Kopf. Als Kreativer – und schon lange hat er sich nicht so kreativ gefühlt wie jetzt – ist es seine Pflicht, sich auf alle Gefühle und Abenteuer einzulassen. Wie soll er über die Liebe schreiben, wenn er jeder Romanze aus dem Weg geht und nur auf den Bildschirm starrt? Kann man über die Liebe schreiben, wenn man sie nicht lebt? Ganz bestimmt nicht. Seine Leser würden mit dem ersten Wort spüren, dass er ein Scharlatan ist und sein Buch in die Ecke werfen!
Er schaut auf die Uhr. Schon fast zwölf Uhr und er hat noch nicht eine Silbe geschrieben! Dabei hat er sich einen genauen Plan zurechtgelegt, wie viele Seiten er am Tag schaffen möchte. Jeden Vormittag vier, dann nach einer kleinen Mittagspause noch mal vier, wenn es gut läuft vielleicht sogar sechs.
Aber alles braucht seine Zeit, und um richtig in Stimmung zu kommen, muss er sich erst einmal an die neue Umgebung gewöhnen. Viele Menschen denken, ein Schriftsteller setzt sich einfach vor den Computer, konzentriert sich ein bisschen, und schon ist das Buch fertig.
Aber so funktioniert das mit kreativer Arbeit eben nicht. Ein guter Autor muss sich emotional auf die jeweilige Situation einstellen, bevor er anfängt zu schreiben. Er muss langsam in die jeweilige Person eintauchen, eins werden mit ihr, um zu fühlen, wie sie spricht und sich verhält. Das braucht natürlich seine Zeit.
Doch heute Nachmittag, da ist Heiner ganz sicher, da werden die Worte nur so aus seinen Fingern fließen. Heute wird er den Grundstock für ein neues Meisterwerk schaffen. Und wer weiß, vielleicht trifft er im Wintergarten auch wieder Steff. Wenn Sie ihn erst einmal richtig bei seiner Arbeit sieht, und er sie zu einem Kaffee einlädt, dann –
»Ganz schön windig geworden, was?«
Heiner dreht sich überrascht um. Hinter ihm steht Schöning, die Hände tief in den Taschen seiner Jeans und mustert ihn mit einem spöttisch-abschätzigen Lächeln.
»Hallo, Herr Schöning, wieder hier?«, stottert Heiner.
Der Makler nickt nur langsam und lässt ihn nicht aus den Augen.
Heiner versucht, die Mundwinkel lässig nach oben zu ziehen, aber sein Gesicht ist wie gelähmt. Was will der Kerl hier? Ärger machen, weil er ihn vorhin vor Steff so vorgeführt hat?
Unsicher wendet er den Blick vom Makler ab und sieht wieder hinaus aufs stürmische Meer, wo ein Kite-Surfer über die Wellen fliegt.
Schöning stellt sich neben ihn und sieht ebenfalls hinaus auf das Wasser. Für einen endlosen Moment schweigen beide.
Heiner räuspert sich. »Und? Haben Sie alles mit Ihren Handwerkern geregelt?«
»Ja, habe ich.«
»Ein schönes Haus haben Sie da, wirklich.«
»Freut mich, dass es Ihnen gefällt. Müssen mich unbedingt mal besuchen kommen, wenn alles fertig ist.«
»Gerne.« Heiner sieht nervös zu Schöning. Irgendwie klang die Einladung eher wie eine Drohung.
»Und was ist mit Ihnen? Haben Sie Steff gut nach Büthow gebracht?«, erkundigt sich der Makler mit tonloser Stimme.
Heiner nickt. Jetzt bloß keine Szene. Was kann er dafür, dass sich Steff am Ende für ihn entschieden hat?
Aber der einen Kopf größere Schöning sieht nur zu ihm herunter und lächelt. »Waren Sie schon mal an der Steilküste?«
Heiner schüttelt den Kopf.
»Unglaublich schön. Sollten Sie sich unbedingt mal anschauen.«
»Danke für den Tipp. Vielleicht gehe ich morgen mal hin.«
»Ich habe gerade ein bisschen Zeit. Wir könnten zusammen ein bisschen spazieren gehen.«
Heiner blickt unsicher zu Schöning hoch. Ihm fällt auf, dass der Makler sich am Kinn nicht sauber rasiert hat.
»Eigentlich wollte ich etwas arbeiten«, sagt er.
»Ach was, dauert auch nicht lange. Nur eine Viertelstunde. Eine ziemlich steile Treppe. Aber dafür können Sie von da oben bis nach Dänemark sehen.«
Heiner betrachtet nachdenklich Schönings seltsam glänzende Augen. Vielleicht sollte er ihm lieber von seiner Höhenangst erzählen. Aber eigentlich möchte er nicht, dass ausgerechnet dieser Kerl ihn für einen Waschlappen hält.
»Ein anderes Mal gerne.«
»Jetzt kommen Sie schon, Herr Deuters«, drängt Schöning, und sein Lächeln wirkt so freundlich wie das Maul einer Bulldogge. »Oder haben Sie etwa Angst vor mir?«
8
Auf der Steilküste
Die Abendsonne leuchtet die herbstliche Bucht in kräftigen Farben aus, blau, grün und ockerbraun. Ein schmaler Trampelpfad schmiegt sich in einer lang gestreckten S-Kurve
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