Transzendenz
ein solch erfülltes Leben führen, wie kommt es dann, dass sie herkommen mussten, um mich anzuschauen?«
Leropa lachte, ein trockenes, unheimliches Geräusch, das nichts Menschliches hatte. »Vielleicht hast du Recht. Sie schlagen ihre Kapriolen auf dem Reichtum vieler Jahrtausende. Aber sie langweilen sich in ihrer Unwissenheit. Und sie sind völlig verwöhnt.«
Alia blickte zu dem Zylinder der Waffe auf. »Und was ist das?«
»Eine Kriegswaffe«, sagte Leropa. »Eine uralte Sternzertrümmerer-Kanone. Sie ist mindestens dreihunderttausend Jahre alt, aber vollauf funktionsfähig. Und sie wird wahrscheinlich noch einmal so lange halten.«
»Wozu ist sie hier? Zur Verteidigung?«
»In gewissem Sinn. Ihre KI ist darauf programmiert, jeden Impaktor – Asteroiden, Kometen – zu finden und zu vernichten, der den Planeten bedrohen könnte.«
Alia runzelte die Stirn. »Ist das wahrscheinlich? Die Asteroidengürtel dieses Systems sind doch stark gelichtet.«
»Das stimmt. Ein Einschlag, bei dem ein Himmelskörper die Atmosphäre durchdringt und größeren Schaden anrichtet, ereignet sich wahrscheinlich nur einmal in einer Million Jahren; zu Pooles Zeit wäre es noch einmal pro Jahrhundert geschehen. Und im All gibt es weitere Abwehrstellungen.« Leropa schaute zu der Waffe hinauf. »Aber dieser Wächter ist trotzdem hier. Der schlimmste Fall wäre natürlich ein Schlag, der diese Verteidigungsanlage ausschaltet, und ein zweiter Schlag, der wegen der fehlenden Abwehr noch mehr Schaden anrichten würde.«
»Die Wahrscheinlichkeit eines solchen mehrfachen Unglücksfalls ist doch wohl verschwindend gering.«
»Aber es besteht trotzdem ein reales Risiko«, sagte Leropa. »Deshalb überprüfe ich diese Anlage von Zeit zu Zeit. Darum habe ich sie dir gezeigt; dies ist der Schutz, den wir Unsterblichen den Menschen der Erde bieten. Du verstehst, nicht wahr?«
»Ich glaube schon…«
Es war eine elementare Einsicht für eine Studentin der Implikation der unbegrenzten Langlebigkeit. Der größte Unterschied zwischen dem Bewusstsein eines Unsterblichen und dem eines normalen Menschen war die Zeitwahrnehmung selbst. Wenn man unsterblich war, konnte man mit einem so langen Leben rechnen, dass Risiken, die im Zeitraum einer normalen menschlichen Lebensspanne statistisch zu vernachlässigen waren, an Bedeutung gewannen. Und so lohnte es sich, über das Risiko eines einmal pro Megajahr erfolgenden Asteroideneinschlags in diesem entleerten, von Verteidigungswaffen starrenden System nachzudenken und sich darauf vorzubereiten.
Wenn die Gattung bis in die ferne Zukunft überleben wollte, waren solche Überlegungen natürlich notwendig. Die Menschheit brauchte die Unsterblichen, oder zumindest ihr instinktives Gefühl für sehr lange Zeiträume. Aber es war eine abstumpfende, schreckliche Perspektive.
»Und diese Vorsicht bringt ihr in die Transzendenz ein«, sagte Alia.
»Die Unsterblichen haben die Transzendenz gegründet. Die Unsterblichen haben sie immer geprägt. Wie könnte es anders sein?«
»Aber ihr Alten habt auch noch anderes Gepäck dabei, nicht wahr?«
Leropa lächelte. »Gepäck? Ah, du meinst die Trauer – die treibende Kraft hinter der Erlösung. Endlich kommen wir zum Punkt. Du hast Zweifel in Bezug auf die Erlösung, nicht wahr, Kind? Du denkst, sie wäre vielleicht ungesund. Obsessiv. Und du argwöhnst, dass mehr daran sein könnte als bloßes Beobachten, habe ich Recht?«
Im Angesicht der kraftvollen Persönlichkeit dieses uralten Geschöpfs fühlte Alia sich schwach. Aber sie nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Ich glaube, es muss so sein. Beobachten reicht nämlich nicht als Sühne.«
Leropa nickte beifällig. »Du hast eine gesunde Intuition. Das Beobachten ist in der Tat nur die erste Stufe der Erlösung, wie sie von den Schulen definiert worden ist. Und nein, man erachtet es nicht als ausreichend. Wie könnte es das auch sein? Beobachten ist etwas für Kinder.«
»Was ist die zweite Stufe?«
»Sie nennt sich ›hypostatische Vereinigung‹«, sagte Leropa. »Eine substantielle, essentielle Vereinigung. Weißt du, was das bedeutet?«
»Nein.«
»Dann sollst du es erfahren.« Sie streckte die Hand aus und berührte Alias Stirn erneut mit einer Fingerspitze, die kälter war als das Eis auf dem Berggipfel.
Alia fiel in ein blutiges Dunkel.
38
Am Morgen versammelten wir uns vor dem Haupteingang des Hotels, um uns zu Makaays Demonstration bringen zu lassen. Es war kalt, aber der Himmel war
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