Trauerspiel
rekonstruieren, das hätten du und ich mit einem schraffierenden Bleistift auch hingekriegt. So hart hat sie diesen Satz auf die Seite geschrieben.»
Susanne schüttelte den Kopf. «Das verstehe, wer will. Julia wird mir immer rätselhafter. Ich frage mich, ob ich sie eigentlich wirklich gekannt habe. Komisch, da denkt man, ein Mensch ist so natürlich und zugewandt, man kennt ihn, und dann wird er fremder, je näher man hinschaut.»
Inzwischen waren beide Frauen an der 14-Nothelfer-Kapelle angelangt. Susanne war ziemlich außer Atem. Sie hatte ihr Training während Tanjas Abwesenheit sträflich vernachlässigt und kam nach der 9-km-Strecke beträchtlich aus der Puste.
Tanja grinste: «Ich glaube, wir zwei haben einiges nachzuholen.»
Seufzend stimmte Susanne zu: «In der Tat, aber auch sonst. Du wolltest mir noch von Wolfgang und dir erzählen.»
Tanjas Gesicht verdüsterte sich. «Ja, das wollte ich. Und vielleicht brauche ich tatsächlich deinen Rat als Seelsorgerin. Denn ich komme mir mit ihm oft so vor, als ob ich mir selbst im Wege stünde.»
«Im Sinne des Apostels Paulus: ‹Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, aber das Böse, das ich nicht will, das tue ich›?», fragte Susanne.
Tanja nickte. «Ja, oft ist das schon so. Und ich habe Angst, dass ich ihn auf Dauer deshalb verliere. Dabei liebe ich ihn so. Und doch steht bei mir dann irgendetwas quer und ich sträube mich und kämpfe gegen ihn. Ich hoffe mal, er hält das noch eine Zeitlang aus.»
Susanne nahm Tanja in den Arm. «Wolfgang ist kein Teenager, der hat schon gesehen, dass er mit dir keinen Sonntagsausflug, sondern eine Abenteuertour gebucht hat. Ich nehme einmal an, das hat er sich sehr genau überlegt, und ich kann mir auch gut vorstellen, dass er dich gerade deshalb liebt.»
Tanja seufzte: «Dein Wort in Gottes Ohr.»
Susanne nickte. «Da gehört es auch hin.»
* * *
Am Sonntag war der Gottesdienst in der St. Johanniskirche außergewöhnlich gut besucht – noch dazu für einen «Brücken-Sonntag» nach dem Fronleichnamstag. Susanne machte sich keine Illusionen. Sicher waren nicht wenige der Gottesdienstbesucher nur deshalb gekommen, weil sie den gruseligen Schauer in der Nähe eines Tatorts erleben wollten. Ihre Predigt war, Susannes Meinung nach, auch nicht gerade dazu geeignet, das Abendland für das Christentum zurückzugewinnen. Eigentlich hatte sie am Freitag in aller Ruhe über den Predigttext nachdenken und ihre Gedanken formulieren wollen. Aus bekannten Gründen war dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt gewesen. Susanne fand es selbst nicht gerade überzeugend, was ihr zu dem vorgeschriebenen Predigttext aus dem 11. Kapitel des Römerbriefs eingefallen war. «Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und wie unerforschlich seine Wege» – das passte zwar unmittelbar zu ihrer Situation, aber dennoch: Immer wieder war sie gezwungen, eine unfreiwillige Pause während der Predigt einzulegen, weil ihre Gedanken ab schweiften und sie den Faden wieder finden musste.Am Ende war ihr selbst nicht mehr ganz klar, was sie der «Lieben Gemeinde» eigentlich auf dem Weg in die neue Woche mitgeben wollte. Deshalb war sie ganz überrascht, als ihr viele Menschen, und scheinbar ganz aufrichtig, für ihre «nachdenklichen, tiefen Worte» dankten, als sie am Ausgang jedem Besucher die Hand zum Abschied reichte.
«Offenbar gibt es tatsächlich den Heiligen Geist», dachte Susanne, «an mir kann es heute tatsächlich nicht gelegen haben.» Sie sandte ein herzliches Dankgebet zu Gott und atmete tief durch, als sie den Talar ausgezogen und ihre Predigt und den Ordner in die Mappe zurückgelegt hatte. Dann wurde sie wieder traurig. Eigentlich wollte sie gerne, wie es ihr lieber Brauch war, am Schillerplatz einen Prosecco nach dem Gottesdienst trinken. Ihr Weg würde sie normalerweise an den Mülltonnen vorbeiführen. Während Susanne daran dachte, verging ihr die Lust an ihrem sonntäglichen Ritual. Susanne fühlte sich plötzlich unendlich müde und alt. Ihre Tasche kam ihr schwer vor und jeder Schritt war eine Last. Langsam ging Susanne aus der Kirche und hatte nur noch ein Bedürfnis: sich zu Hause unter der Bettdecke zu verkriechen und, wenn auch nur für eine Stunde, das Grauen und den Schmerz um sie herum zu vergessen. Vielleicht war ja auch alles gar nicht wahr und wenn sie aufwachte, war Julia lebendig und alles wie vorher und das Leben einfach und gut. Sie wusste, dass es nicht so war und kroch trotzdem unter ihre Bettdecke und
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