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Trauerspiel

Trauerspiel

Titel: Trauerspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vera Bleibtreu
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schaffen», antwortete Susanne. Kaum hatte sie aufgelegt, als das Telefon schon wieder klingelte. «Was er wohl vergessen hat?», fragte sich Susanne und hob ab.
    «Susanne, schön dass du gleich am Apparat bist», klang ihr die fröhliche Stimme von Urs Bernhardt ins Ohr. Seit Urs ihr das Leben gerettet hatte, waren die beiden zum vertrauten «Du» übergegangen. «Stell dir vor, ich bin morgen auf dem Weg nach München, ich soll einen Vortrag über Wissenschaftstheorie halten. Da dachte ich doch, ich stei ge einfach in Mainz aus und gehe mit dir eine Kleinigkeit essen. Aber nur, wenn ihr in Mainz für mich auch etwas anderes als Fleischwurst und Brezeln findet. Die mag ich nämlich nur an Karneval.»
    «Das heißt hier Fassenacht», korrigierte Susanne automatisch.
    «Na gut, dann eben an Fastnacht», flötete Urs fröhlich.
    «Fassenacht, Urs, FASSENACHT, merk dir das, sonst kannst du dich in Mainz nicht blicken lassen.»
    «Aber wir haben doch gerade keinen Karneval, und bis zum 11.11. ist es noch lange hin.»
    «Ach Urs», seufzte Susanne mit gespielter Verzweiflung. «Du bist und bleibst der Alte. Ich freue mich riesig, dich zu sehen. Wann kommst du denn an?»
    «Um 11.38 Uhr in Mainz am Hauptbahnhof. Kannst du mich bitte abholen, ich habe sonst ein komisches Gefühl. Das letzte Mal, als du mich nicht abgeholt hast, da lagst du halbtot hinter der Tür. Also hol mich einfach ab, dann kannst du auch nicht halbtot irgendwo herumliegen.»
    «Alles klar, ich bin am Bahnsteig», lachte Susanne. «Eine Frage noch, Urs, was fällt dir spontan zum Thema ‹Wahrheit› ein?»
    «Was ist Wahrheit, sagte Pilatus, und, aber das müsstest du auch wissen: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, sagte Jesus, ist ja klar. Aber erst mal eins nach dem anderen.»
    Susanne hörte, wie Urs in seiner Wohnung fröhlich hin und her hüpfte.
    «Es gibt mindestens zwei Definitionen von Wahrheit. Das eine ist die klassische Definition der Philosophie, Wahrheit ist die Übereinstimmung von Satz und Wirklichkeit. Wahr können daher nur Sätze sein. Ein Satz ist dann wahr, wenn die Wirklichkeit so ist wie der Satz. Dann gibt es die Kohärenzwahrheit, die braucht man in der Mathematik. Ein Satz ist in der Mathematik wahr, wenn er aus anderen Sätzen hergeleitet werden kann. Das funktioniert allerdings nur mit ganz sicheren wahren Sätzen als Ausgangspunkt. Dann gibt's natürlich noch den ganz anderen Wahrheitsbegriff, wenn man zum Beispiel sagt: Du bist ein wahrer Freund. Das ist auch die eher biblische Vorstellung: Wahr ist jemand, der treu ist, verlässlich. Amen eben, zu Deutsch, so ist es oder so sei es wahrhaftig. Es ist natürlich quatsch, diese drei Wahrheiten gegeneinander auszuspielen, aber Verbindungslinien gibt es viele. Also, war's das fürs erste, was du wissen wolltest?»
    «Fürs Erste reicht es», meinte Susanne, wie immer etwas erschöpft nach einer von Urs´ Kurzvorlesungen. «Ich freue mich auf morgen. Bis dann!»
    Susanne blickte auf die Uhr, höchste Zeit, in Richtung ‹Gianni› aufzubrechen. Immerhin fühlte sie sich jetzt gerüstet für das Gespräch mit Michael Berger.
    * * *
    «Wenn ich mal von allem genug habe, dann kann ich mich hier herunterstürzen», meinte Michael Berger lächelnd. «Allerdings plumpse ich dann dem Senderchef genau vor die Nase, der hat nämlich da unten sein Büro.»
    Susanne und er standen auf einer Brücke, die zwei Flügel des Senders miteinander verband und die tatsächlich in beträchtlicher Höhe über einen gepflasterten Innenhof führte.
    «Lassen Sie sich Zeit mit solchen Aktionen», meinte Susanne. «In Ihrer Familie möchte ich eigentlich keine Beerdigungen mehr erleben.»
    Berger wurde ernst. «Sie haben recht, das war ein blöder Scherz. Kommen Sie, ich zeige Ihnen mein Büro.» Berger ging ihr voraus in den nüchtern wirkenden Bau.
    «Riesig ist es ja nicht hier drinnen», sagte Susanne, als sie das schmale Zimmer betraten.
    «Stimmt», bestätigte Berger, «es reicht gerade für einen Besucherstuhl, Schreibtisch und Regal. Ich hätte mich auch mit anderen zusammenschließen können zu einem größeren Büro, aber ich arbeite lieber alleine.»
    Susanne nickte. «Das kann ich verstehen, ich könnte auch nur schwer mit anderen Menschen in einem Raum arbeiten. Ich finde, gerade wenn man kreativ denken will, braucht man seine Ruhe.»
    «Übrigens ist der Raum noch groß im Vergleich zu den Büros, die den freien Mitarbeitern zur Verfügung stehen. In denen kann man sich kaum

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