Trauerspiel
«Die Kollegen könnten für uns ProBio recherchieren, den Regisseur müssten wir um diese Uhrzeit eigentlich zu Hause antreffen können, und die Witwe befragen wir nach dem Regisseur. Bist du damit einverstanden?»
Tanja nickte. «Also, auf zum Regisseur!»
Arne griff sich seinen Block vom Schreibtisch. «Meinst du, ich könnte ihn bei der Gelegenheit fragen, warum er den Otello so enervierend schwarz-weiß angelegt hat?»
Tanja nahm ihren Kollegen am Arm. «Du, ich habe zwar keine Ahnung vom Theater, aber wenn ich mich da reinfühle, in diese Theaterleute, also, ich würde die Frage gleich zu Beginn des Gesprächs stellen, das hebt die Stimmung!»
Arne schaute sie überrascht an. «Glaubst du wirklich?»
Diesmal sparte sich Tanja eine Antwort und tippte sich stattdessen mit dem Finger an die Stirn.
* * *
Susanne lief durch die Mainzer Altstadt, als ihr in der Grebenstraße ein kleinerer Mann mit einem weißen Priesterkollar entgegenkam. Ohne Zweifel – der Kardinal. Er war kleiner, als sie ihn sich vorgestellt hatte, und sie überlegte sich, ihm zu seinem Geburtstag zu gratulieren, den er vor nicht allzu langer Zeit gefeiert hatte. Doch dann hatte sie nicht den Mut dazu. Es war wie meistens in ihrem Leben, sie agierte nach dem Motto: «Gib mir 30 Minuten Zeit und ich liefere dir eine spontane Antwort».
«Am liebsten würde ich ihn bitten, mir einen Nothelfer zur Seite zu stellen», dachte sie. Manchmal wäre es schön, einfach katholisch zu sein und in jeder Lebenssituation einen Heiligen an der Seite zu wissen. Aber hätte ein Heiliger Julia vor dem grausamen Menschen bewahren können, der sie ermordet hatte? Und könnte irgendein Heiliger oder eine Heilige sie bewahren vor dem bösartigen Anschlag, den ein Mensch, ohne dass sie wusste warum, auf sie geplant hatte?
* * *
Regisseur Thorsten Braun trug schwarz. Schwarze Hose, schwarzes Hemd, schwarze Haare, die ihm etwas unordentlich ins Gesicht fielen. Bei seinem Anblick, fand Tanja, erübrigte sich eigentlich Arnes Frage nach der schwarzweißen Inszenierung. Höchstens, weshalb Weiß vorkam, das wäre noch offen. Ein leichtes Grinsen konnte sie sich nicht verkneifen. Irritiert schaute sie der Theatermann an. Tanja riss sich zusammen.
«Können wir hereinkommen?», fragte sie.
Braun öffnete die Tür weiter und ging ihnen voran in ein komplett weiß angelegtes Wohnzimmer.
«Aha», sagte Tanja.
«Was meinen Sie bitte?», fragte Braun.
«Ach nichts», sagte Tanja, «ich habe nur Ihre Einrichtung bewundert. Diese klare Linie.»
In der Tat gab es, einmal abgesehen von den Orchideen in der hohen, schmalen Rosenthal-Vase, keine geschwungenen Formen in diesem Wohnraum. Das sah edel aus, wirkte aber auch kühl. Ob Thorsten Braun zu seinem Wohnzimmer passte? Arne hatte so seine eigenen Assoziationen. Er dachte an ein Stück, das er vor Jahren in den Mainzer Kammerspielen gesehen hatte: KUNST hieß es. Darin kaufte ein Mensch ein teures Bild, das ganz weiß war, und erntete gemischte Reaktionen seiner Umgebung. «Weiße Scheiße», erinnerte sich Arne, war eine davon. Auch bei Braun an der Wand hing «Weiße Scheiße». Und auch dieses Bild war sicherlich nicht bei Aldi im Angebot gewesen. Arne grübelte, ob Tanja, der Spezialistin für innenarchitektonische Fragen, dieses Werk wohl gefiel. Der Regisseur warf sich mit einer kurzen Handbewegung die schwarzen Zotteln aus dem Gesicht.
«Was wollen Sie eigentlich genau von mir?», fragte er. Arne zückte seinen Block.
«Sie wissen ja, dass eine der Chorsängerinnen, ein junges Mädchen, Julia Moll, in der vergangenen Woche ermordet wurde. Welche Beziehung hatten Sie zu der Schülerin?»
Thorsten Braun faltete seine Hände. «Julia Moll, das sagt mir gar nichts. Wissen Sie, ich kenne nicht jede Chorsängerin.»
«Aha», dachte Tanja. Der Herr Regisseur nahm es offensichtlich nicht allzu streng mit der Wahrheit.
«Nein, eine Julia Moll kenne ich nicht», bekräftigte Braun.
«So würde ich das nicht sehen», sagte eine etwas scheppernd klingende Stimme.
Thorsten Braun fuhr auf. «Ich bitte dich! Ulrike!»
Eine große, wohlgerundete Frau war in den Raum getreten. «Möchtest du mich den Herrschaften nicht vorstellen, Thorsten?»
Der Regisseur verzog mürrisch seinen schmalen Mund. Er sah aus wie ein unzufriedenes Kind. «Das sind Kommissare, sie sind wegen einer ermordeten Chorsängerin da. Meine Frau, Ulrike Sommer, sie singt auch im Otello mit. Die Desdemona.»
Arne war begeistert. Die Sommer!
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