Trauerspiel
umdrehen. Die zeige ich Ihnen später. Wollen Sie einen Kaffee oder einen Cappuccino?» Berger wies auf eine professionell aussehende Espressomaschine, die einen nicht unbeträchtlichen Platz im Regal einnahm. «Ohne Kaffee ginge bei mir in Sachen Kreativität gar nichts», gab er zu.
«Gerne einen Cappuccino», antwortete Susanne. «Kaffee wird mir bei Geburtstagsbesuchen schon fast intravenös eingeflößt, den kann ich privat deshalb kaum noch sehen, genauso wie Kuchen. Ich käme nie auf die Idee, mir nachmittags ein Stück Torte zu bestellen, mein berufsbedingter Konsum von Kuchen und Torten wird wahrscheinlich langfristig zu einer ausgewachsenen Diabetes führen. Ganz zu schweigen von den Pfunden, die sich deshalb auf meinen Hüften lagern. Aber einen Cappuccino trinke ich gerne.»
Berger lachte, hantierte dann geschickt an der Maschine und servierte Susanne das gewünschte Getränk.
«Erzählen Sie mal, wie Sie auf das Thema ‹Werte› gekommen sind», bat Susanne.
«Ich habe den Eindruck, dass das Thema gerade absolut aktuell ist», antwortete Berger. «Die Welt wird unsicherer, Menschen sehnen sich nach einem Halt, nach etwas, auf das sie sich verlassen können. Wenn das von außen nicht mehr geboten wird, dann suchen sie es in sich. Wenn zum Beispiel Politik und Politiker als verlogen erlebt werden, dann sehnen sich die Menschen nach wahrhaftigen Beziehungen, nach Wahrheit überhaupt. Da wären wir schon beim Thema, bei der Wahrheit nämlich. Meine letzten Beiträge gingen über Gerechtigkeit und Ehrfurcht vor dem Leben. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen gerne eine DVD mitgeben, damit Sie sich ein Bild machen können.»
«Danke, sehr interessant», meinte Susanne.
«Und was können Sie mir zum Thema sagen?», fragte Michael Berger.
«Also», konzentrierte sich Susanne, «es gibt verschiedene Definitionen von Wahrheit…»
Eine Stunde später hatte Susanne alles erzählt, was ihr zum Thema eingefallen war – Urs Bernhardts Anregungen waren dabei wirklich hilfreich gewesen. Michael Berger hatte alles, was sie gesagt hatte, mit einem kleinen Gerät aufgenommen.
«Darf ich Ausschnitte daraus als O-Ton verwenden?», fragte er.
«Was ist denn ein O-Ton?», erkundigte sich Susanne.
«Das ist die Originalstimme eines Menschen. Wenn ich den Beitrag schneide, dann füge ich O-Töne, also originale Zitate von Ihnen ein. Ich könnte diese Zitate natürlich auch von einem Sprecher sprechen lassen. Aber ich finde, mit O-Tönen wirkt ein Beitrag lebendiger. Also, sind Sie damit einverstanden?»
Susanne nickte. «Klar, aber suchen Sie etwas aus, was halbwegs intelligent klingt.»
Anschließend führte Michael Berger sie noch durch das Sendergebäude. Immer wieder wurde er auf dem Flur von anderen Journalisten angesprochen. Susanne fiel auf, wie beliebt dieser engagierte Journalist war. Berger stellte Susanne vor, und die kam sich ein bisschen wie eine Exotin vor, jedenfalls erntete sie immer wieder erstaunte Blicke, wenn sie als Pfarrerin vorgestellt wurde. Aber dann ergaben sich gerade dank ihres Berufs rasch interessante Gespräche. Der Nachmittag verging wie im Flug.
«Du meine Güte, es ist schon halb fünf», meinte Susanne nach einem Blick auf die Uhr. «Ich muss zu meinen Konfirmanden!»
Michael Berger begleitete sie noch bis zur Pforte. «Das nächste Mal sehen wir uns auf der Beerdigung von Julia. Ich bin wirklich froh, dass Sie das machen, danke für alles, auch für die wichtigen Anregungen zum Thema ‹Wahrheit›.»
Susanne drückte Berger die Hand und spurtete zu ihrem Auto. Etwas abgehetzt, aber pünktlich kam sie bei ihren Konfirmanden in St. Johannis an.
«Wisst ihr was? Ich möchte heute mit euch über ein wichtiges Thema diskutieren. Was fällt euch beim Stichwort ‹Wahrheit› ein?»
* * *
Frau Dorn-Neustädter war Ende 40, eine schmale Frau mit einem dunklen Pagenkopf und spitzer Nase. Sie sah verhärmt aus und schaute Arne und Tanja aus traurigen, braunen Augen bittend an.
«Muss ich denn alles noch einmal erzählen?», fragte sie. «Es tut noch so weh wie am ersten Tag.»
Arne nickte bedauernd mit dem Kopf. «Leider ja. Die Schülerin, die von den Übergriffen Ihres Mannes erzählt hat, ist letzte Woche ermordet worden und wir müssen alle Anhaltspunkte überprüfen. Zunächst: Wo sind Sie in der Nacht vor dem Fronleichnamstag gewesen?»
Frau Dorn-Neustädter richtete sich kerzengerade auf. «Verdächtigen Sie etwa mich?», fragte sie empört.
«Wir müssen Sie das fragen»,
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