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Trauerspiel

Trauerspiel

Titel: Trauerspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vera Bleibtreu
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sonst zu viel Ehre zu schenken. Julia sollte im Mittelpunkt stehen, nicht das Böse, das sie zerstört hatte. Berger schaute sie an, sie fühlte es. Doch Paul Gerhardt und sein tröstendes Lied waren stärker. Sie wusste, dass sie jetzt die Kraft hatte, auch vor Michael Berger zu predigen.
    Susanne trat zum Pult. Jetzt fand sie auch den Blickkontakt zu Julias Eltern. Ruhig schauten Brigitte und Richard Moll sie an. Susanne fühlte plötzlich eine tiefe Sicherheit. Ob ihre Worte tröstend wirken würden oder nicht, das lag jetzt nicht mehr in ihrer, sondern in Gottes Hand. Sie hatte getan, was sie konnte. Susanne betete darum, dass die Worte, die sie sich in den dunklen Nachtstunden abgepresst hatte, dass die der Heilige Geist beflügeln möge. Sie wandte sich direkt an Julias Eltern.
    «Liebes Ehepaar Moll,
    ‹Eure Liebe sei aufrichtig. Hasst das Böse, liebt das Gute.› Diesen Konfirmationsspruch haben Sie für Julia ausgewählt. Bei ihrer Konfirmation vor drei Jahren hier in der St. Johanniskirche hat sie ihn empfangen, und heute hören wir ihn an ihrem Sarg. Sie ist diesem Wort treu geblieben, ja, ich glaube, sie ist sogar gestorben, weil sie gegen das Böse ankämpfen wollte. Julia war niemand, der einfach mitspielte, sie wollte die Spielregeln kennen. Als sie spürte, dass mit ihr ein böses Spiel gespielt wurde, da schloss sie nicht die Augen oder verlor den Mut, da wollte sie Klarheit. Das hat ihr Mörder nicht ertragen. Julia wurde zu gefährlich.
    Im Grunde war sie schon in dem Moment ein gefährdeter Mensch, als sie ihren Konfirmationsspruch ernst nahm. Hasst das Böse, liebt das Gute. Menschen, die das ernst nehmen, die danach zu leben wagen, die sind Sand im Getriebe des Bösen, die sind Stachel im Fleisch aller, die dunkle Wege gehen. Menschen, die das Böse hassen und das Gute lieben, die sind gefährlich – und gefährdet. Das haben noch alle gemerkt, die nach diesen zutiefst biblischen Weisungen ihr Leben ausgerichtet haben: von den Propheten des Alten Testaments über Jesus Christus, Martin Luther und Dietrich Bonhoeffer bis hin zu allen Frauen und Männern, die sich heute für das Gute einsetzen.
    Aber – was wäre die Welt ohne diese Männer und Frauen, was wäre die Welt ohne Menschen wie Julia? ‹Verleihe, dass zu deinem Ruhm ich deines Gartens schöne Blum und Pflanze möge bleiben›, werden wir gleich singen. Gerade so habe ich Julia empfunden – als wunderschönes Gewächs Gottes, als ein Mensch, der blühte und wuchs, an Gestalt und an Bildung, an Interesse und wachem Ver stand. Es war eine Freude, mit ihr zu tun zu haben. Anspruchsvoll war es auch, sie war so lebendig, so rege und kritisch in ihrem Fragen. Was ist gut, was böse? Manche Menschen haben das vielleicht anstrengend gefunden, es ist ja bequemer, alles ungefragt zu behaupten oder zu akzeptieren. Beides erlaubte Julia ihren Mitmenschen nicht. Sie war wie ein Spiegel, der die Qualität und zugleich die Mängel von Argumenten und Meinungen zeigte. Herausfordernd war sie, eine gute Herausforderung, finde ich, eine, die mein Leben bereichert hat – und das Leben vieler anderer Menschen. Glücklich konnten sich alle schätzen, denen sie ihre Freundschaft geschenkt hat. Ein Glück vor allem für Sie als Eltern, ich kann nur ahnen, mit wie viel Freude sie das Heranwachsen ihres Kindes begleitet und beobachtet haben. Gewiss war es auch für sie manchmal schwer, ihren Fragen und ihrem starken Willen standzuhalten. Denn, auch das ist ja bei einem menschlich so reifen Wesen festzuhalten, sie war erst 17, und mit 17 hat ein Mensch manchmal ziemlich radikale Ansichten zum Thema Gut und Böse, die er mit seinen Erziehungsberechtigten hart verhandelt. Sie haben auch Geduld gebraucht mit ihr, bei aller Freude. Und haben sich bestimmt gefreut auf die Zeit, wenn sich aus dem jungen Mädchen eine Frau, eine erwachsene Gesprächspartnerin entwickeln würde. Das hat ihr Mörder nicht zugelassen, und das stimmt uns alle heute unendlich traurig. Ich war gespannt, für welche Ausbildung oder welches Studium sie sich entschieden hätte. Ich hätte so gerne erfahren, welchen Lebenspartner sich Julia ausgesucht, welcher Mensch es mit dieser starken Frau aufgenommen hätte, und ich hätte gerne ihre Kinder getauft und wäre neugierig gewesen, wie sie ihre Sensibilität für Gut und Böse weitergegeben hätte. All das wird nicht geschehen. Diese grüne Pflanze ist ausgerissen worden. Und doch: ihr Mörder hat sie nicht vernichten können. Ihren Körper

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