Trauerspiel
hat er zerstört, jedoch nicht ihr Wesen. Sie ist bei dem geborgen, der dem Bösen zuletzt eine Grenze setzt, die es nicht überschreiten darf. In seinem himmlischen Reich hat das Böse kein Recht und keine Macht.
Manchmal sieht es so aus, als ob das Böse letztlich den Kampf gewinnen könnte. Manchmal will ich auch verzweifeln über seine Macht, und als ich Julia im Tod sah, da ging es mir so, verzweifelt war ich, und traurig. Heute weiß ich: Menschen wie Julia leben nicht vergeblich, noch ihr Tod fügt der Gewalt Schaden zu, reißt Steine aus der Mauer des Bösen, und eines Tages, da bin ich ganz sicher, wird sie so zum Einsturz gebracht werden und der Weg zum Paradies offen stehen.
In dieses Paradies ist Julia uns vorausgegangen. In dieses Reich, in dem das Gute geliebt wird. So heiß geliebt, dass, auch dies ist meine Hoffnung, eines Tages noch das letzte in Bosheit verhärtete Herz in der Glut der himmlischen Liebe schmilzt. Amen.»
«Agnus Dei», sang der Chor. Susanne kam es vor, als ob die ergreifende Musik ihren Anteil dazu leisten wollte, verhärtete Herzen zum Schmelzen zu bringen. Nur an Bergers Herz würden die Klänge wohl abprallen – unfassbar. «Qui tollis peccata mundi – der du die Sünden der Welt trägst» – wer sonst als das Lamm Gottes konnte diese schwere Last tragen … die Last der Trauer um Julia Moll, um ein junges, hoffnungsvolles Leben, aber auch die Last eines Menschen, der seine Nichte und wahrscheinlich sogar auch seine eigene Mutter ermordet hatte. Vier Klas senkameradinnen, Freundinnen von Julia, kamen zum Fürbittgebet nach vorne. Die Gemeinde erhob sich. Die Mädchen beteten für Julia, für ihre Eltern, für alle, die sie lieb hatten und ihr freundschaftlich verbunden waren. Leise, mit Tränen in den Augen, sprachen sie ihre Gebete, die sie selbst formuliert hatten. Auch sie wollten auf ihre Weise ihre Freundschaft zu Julia zeigen. Susanne leitete das Vater Unser als Abschluss der Bitten ein. Dann sang die Gemeinde im Stehen die letzten beiden Strophen von «Geh aus mein Herz und suche Freud» – wieder Paul Gerhardt. Susanne überlegte, ob Julias Eltern wohl ganz bewusst nur Paul-Gerhardt-Lieder für die Beerdigung von Julia ausgewählt hatten, obwohl zuerst andere Lieder im Gespräch waren. Dieser Dichter wusste, was es heißt, ein Kind zu verlieren. Nur eines seiner fünf Kinder wurde erwachsen, alle anderen starben früh. «Erwähle mich zum Paradeis und laß mich bis zur letzten Reis an Leib und Seele grünen», sang die Gemeinde, und Susanne dachte, wie tröstlich es war, daran glauben zu dürfen, dass Julia nun tatsächlich im Paradies war – wie auch immer dies aussehen mochte. Sie sprach den Segen, dann trugen sechs Lehrer von Julias Schule den Sarg durch das Kirchenschiff zum Leichenwagen. Dr. Kleinknecht, der Direktor von Julias Gymnasium, war unter den Trägern. Julias Eltern folgten dem Sarg ihrer Tochter. Die eigentliche Beisetzung würde im engsten Familienkreis erfolgen. Diesen Moment wollten Brigitte und Richard Moll nicht mit anderen Menschen teilen müssen. Nur Susanne sollte ihnen in diesem Augenblick beistehen dürfen. Und Michael Berger …
* * *
Susanne nahm eine Handvoll Erde aus der Holzkiste, die neben dem offenen Grab stand. «Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staub.» Die wunderschönen Blumen auf Julias Sarg würden bald ganz mit Erde bedeckt sein. Es gab Angehörige, die dies nicht aushielten, die es nicht ertragen konnten, wenn die Erde auf den Sarg fiel. Susanne dagegen fand es schade, wenn sie auf den Erdwurf verzichteten und stattdessen Blumen in das Grab warfen. Am schönsten hätte sie es gefunden, wenn in Mainz eine Tradition aus Afrika eingeführt werden könnte. Dort schaufeln die Angehörigen und Freunde das Grab mit eigenen Händen zu. Sie arbeiten manchmal eine Stunde lang, und mit jeder Handvoll Erde, die sie auf den Sarg werfen, fällt auch ein Stück Trauer von ihnen ab. Dabei singen und tanzen und weinen sie gemeinsam. Singen, tanzen und weinen – das würde in das manchmal etwas rührselige Mainz schon passen. Aber die enge Folge der Beerdigungen, manchmal sechs an einem Vormittag, erlaubte es wohl kaum, die zeitaufwändige afrikanische Bestattungskultur einzuführen. Nachdenklich blickte Susanne auf Julias Sarg. Dann schlug sie ein Kreuz und wandte sich Brigitte und Richard Moll zu. Beide nahmen sich viel Zeit beim Abschied am offenen Grab, beide wählten nicht die bereitliegende Schaufel, sondern gruben wie
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