Trauerspiel
Susanne ihre Hände in die Erde. Nach ihnen trat Michael Berger ans Grab. Susanne spürte, wie ihr einen Augenblick lang schlecht wurde, doch sie konnte sich zusammenreißen. Dann standen sie noch eine lange Weile zu viert vor dem offenen Grab. Susanne bemerkte wohl, dass der Friedhofsmitarbeiter schon etwas ungeduldig wurde. Aber sie konnte und wollte diesen Moment nicht zerstören – um Julias Eltern willen. Mit einem leisen Seufzer wandte sich schließlich Brigitte Moll vom Grab ab. Ge meinsam gingen sie langsam über den Friedhof. Am Ausgang verabschiedete sich das Ehepaar von Susanne mit einer Umarmung. Mit äußerster Überwindung gelang es Susanne, auch Berger die Hand zu reichen. Julias Eltern sollten nichts merken.
«Wir sehen uns dann am Sonntag, wenn Julia noch einmal in das Gebet der Gemeinde eingeschlossen wird. Auch ihre Mitschüler, die Lehrer und viele vom Chor wollen dann noch einmal kommen», wandte sich Susanne an Julias Eltern.
«Danke für alles», sagte Richard Moll leise.
Susanne nickte stumm.
Dann nahm Richard Moll die Hand seiner Frau, und beide gingen langsam davon. Michael Berger folgte ihnen. Susanne sah ihnen lange nach.
* * *
Der alte Alfa hatte Kurs auf Odernheim genommen. Susanne brauchte Abstand von Mainz, und wo konnte man besser zu sich kommen als an der alten Wirkungsstätte der heiligen Hildegard von Bingen, am Disibodenberg. Eine Stunde brauchte der Alfa bis zu dem Kiesweg unterhalb der Klosterruine. Susanne stieg aus und atmete tief ein. Stille war um sie, niemand hatte an diesem Sommertag den Weg hierher gesucht. Leise rauschten die Blätter der uralten Bäume in einem leichten Wind. Die Stille hatte einen eigenen Klang. Susanne folgte dem schmalen Sandweg bis zu einer kleinen Anhöhe. An der Kreuzung entschied sie sich gegen den Rundgang und für den Meditationsweg. Zwölf Stationen erwarteten sie. Susanne nahm sich Zeit. Zeit für die Psalmen, die auf Tafeln zu lesen wa ren, Zeit für die mystischen Worte der heiligen Hildegard. Lange saß sie auf einer Bank und ließ die Stille auf sich wirken. Sie versuchte, an gar nichts zu denken. Als sie sich ganz dem Rhythmus ihres Atems hingegeben hatte, kam ihr plötzlich Julias Konfirmationsspruch in den Sinn: «Hasst das Böse, liebt das Gute.» Nachdenklich wiederholte sie den Spruch. «Hasst das Böse, liebt das Gute» – was konnten diese Worte für sie bedeuten? Langsam wanderte sie den Pfad zur Klosterruine hinauf. Fast tausend Jahre alt waren die Steine, die hier efeubewachsen in der weichen Erde lagen. Vielleicht war auch ein Stein darunter, der noch aus der ersten, von Disibod um 600 errichteten Taufkapelle stammte? «Was bleibt?» fragte sich Susanne. Sie lief den Grundriss der ehemaligen benediktinischen Klosteranlage entlang: Kirche, Kapitelsaal, Kreuzgang. Hier hatte Hildegard gebetet, hier hatte sie zu Worten gefunden, die ihre eigene Lebenszeit weit überdauert hatten. Susanne setzte sich auf einen Stein, der einst zum Kreuzgang gehört haben mochte. «Hasst das Böse, liebt das Gute.» Im Rhythmus des Ein- und Ausatmens wiederholte sie in Gedanken diese Bibelverse. Sie spürte, wie sie ganz ruhig wurde. Und auf einmal war ihr leuchtend klar, was sie tun musste.
* * *
Dekan Dr. Weimann hatte schwere Bedenken. «Was Sie da planen, Frau Hertz, kann sehr gefährlich für Sie sein.»
Susanne nickte zustimmend. «Ich weiß. Deshalb werde ich auch meinen Freund Arne Dietrich bitten, mir Polizeischutz zu geben.»
Dr. Weimann wiegte seinen Kopf sorgenvoll hin und her. «Einen hundertprozentigen Schutz gibt es nicht, das wis sen Sie. Dieser Mann hat schon einmal gemordet.» «Wahrscheinlich sogar zweimal, und bei mir hat er es versucht», sagte Susanne traurig.
«Kann man ihm denn wirklich gar nichts nachweisen?», erkundigte sich Weimann.
«Nein. Wenn der Mordanschlag auf mich nicht zufällig verhindert worden wäre, hätte er drei perfekte Morde begangen. Deshalb muss ich es tun. Er fühlt sich sonst unverwundbar, und ich fürchte, dann wird er wieder morden, wenn es seinen Zielen dient.»
Der Dekan blieb nachdenklich. «Sie wissen, dass er sie nach dieser Predigt verklagen kann?»
Susanne nickte. «Er könnte allerdings versuchen, über Sie zu verhindern, dass ich an diesem Sonntag predigen darf.»
Dr. Weimann verschränkte die Arme vor der Brust. «Sie haben die Kanzelhoheit in St. Johannis. Und Sie kennen Ihr Ordinationsgelübde: Sie sind dem Evangelium verpflichtet. Wie Sie es schaffen wollen, dass Ihre
Weitere Kostenlose Bücher