Traumhaft verliebt - Roman
Berührungsängste. Vielleicht waren aber auch alle Kinder so. Woher sollte sie das wissen? Sie war Einzelkind gewesen, und als Babysitter hatte sie sich auch nie verdingt. Benny hatte sie gefragt, warum sie ausgerechnet ein Kinderbuch geschrieben hatte, und sie konnte es ihm nur so erklären, dass sie es für das Kind verfasst hatte, das sie einst gewesen war. Von den Eltern übersehen und unterschätzt, hatte sie eine überreiche Fantasiewelt entwickelt. Dieses Kind hier, dieses aufgeschlossene, anhängliche, fröhliche, offenbar viel geliebte Zwerglein, überrumpelte sie.
»Sie ist noch nie einer Fremden begegnet«, erklärte der Mann in dem Weihnachtsmannkostüm.
Du meine Güte ,hätte sie am liebsten gesagt, hast du noch nie die Abendnachrichten gesehen? Es vergeht doch kaum eine Woche, in der nicht irgendeine Tragödie passiert, nur weil ein Kind zu vertrauensselig war. Bring deiner Tochter bei, dass Fremde gefährlich sein können. Dann wiederum fiel ihr ein, dass sie hier in Twilight war. Ob das richtig war oder falsch, die Menschen hier waren einfach argloser.
»Der Weihnachtsmann ist mein Vater.« Jazzy kicherte und strahlte Sarah an.
Na schön, dieses Kind konnte die jahreszeitlich bedingte affektive Störung mit einem dieser Eine-Million-Watt-Grinsen wettmachen. Jetzt wusste Sarah, wie sich der Grinch in Anwesenheit der couragierten Cindy Lou Hoo gefühlt haben musste. Geschlagen. »Na, dann bist du ja ein glückliches kleines Mädchen«, murmelte Sarah, die nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.
Jazzys blonde Korkenzieherlocken hüpften vor Begeisterung. »Er ist der beste Daddy auf der ganzen Welt.«
Jetzt fiel Sarah auf, dass die Kleine genauso angezogen war wie ihre Heldin Isabella aus Das magische Weihnachtsplätzchen. Ein merkwürdiges Gefühl überkam sie, das angenehm war und dann auch wieder nicht.
»Setzen Sie sich, Miss Cool«, bat Belinda Murphey. »Die Parade geht gleich los.«
Sarah blickte sich um und stellte fest, dass es nur einen freien Platz gab – neben Santa Claus auf seinem Schlitten.
Er klopfte auf den Sitz neben sich und zwinkerte Sarah mit seinen grauen Augen hinter seiner Weihnachtsmannbrille verschmitzt zu. Graue Augen, die sie an Travis erinnerten. »Pflanzen Sie sich hierher, Sadie.«
Ein flapsiger Weihnachtsmann? Nicht gerade viktorianisch. Zögernd nahm Sarah neben ihm Platz, während er Jazzy auf seinen Schoß zog. Sie hörte, wie der Motor des Umzugswagens rumpelnd zum Leben erwachte.
Auch seine Stimme erinnerte sie an Travis.
Du bist einfach überempfindlich. Komm darüber hinweg. Er ist nicht Travis.
Nein, aber früher oder später würde sie Travis über den Weg laufen, und genau das machte sie so unruhig. Nervös strich sie eine unsichtbare Falte aus ihrem knitterlosen Rock und vermied es, Santa anzublicken. Zusammen mit den anderen Umzugswagen holperte der Laster, auf dessen Ladefläche sie saßen, vom Football-Platz. Zwischen den Wagen fuhren Kutschen, Dudelsackspieler und die Cheerleader der Highschool marschierten mit dem Zug.
Jazzy lehnte sich über ihre Seite des Schlittens und winkte begeistert in die Zuschauermenge entlang der Umzugsstrecke. Als die Sonne am Horizont im See versank, flackerten die schwarzen, schmiedeeisernen Gaslaternen auf. An den Straßenständen wurden die unterschiedlichsten Gerichte angeboten, von gebratenen Putenschlegeln über Steaks am Spieß bis hin zu Shepherd’s Pie – mit Kartoffelbrei überbackenes Hackfleisch vom Lamm. Die Luft war erfüllt von dem Geruch sautierter Zwiebeln, Knoblauch und kräftigen Gewürzen.
Viele Leute trugen viktorianische Kostüme. Sarah entdeckte Beefeaters – die königlichen Leibgardisten – und Londoner Bobbys, wie die Polizisten dort genannt wurden, außerdem jede Menge Figuren aus den Romanen von Charles Dickens: Scrooge, Marley und Tiny Timm, Miss Havisham, Oliver Twist und David Copperfield. Kinder thronten auf den Schultern ihrer Väter. Mütter trugen farbenfroh dekorierte Picknickkörbe. Teenager, cool wie immer, blickten gelangweilt drein und tippten SMS’ in ihre Handys. »Weihnachtsmann! Weihnachtsmann!«, riefen die Knirpse aufgeregt, als ihr Umzugswagen vorbeifuhr.
Jazzy lehnte sich über den Schoß ihres Vaters, um Sarah etwas ins Ohr zu flüstern. »Du musst winken.«
»Wie bitte?«, fragte Sarah überrascht.
»Sie ist sehr kontaktfreudig«, erklärte der Weihnachtsmann und winkte wie verrückt in die Menge. »Jazzy kennt sich mit diesen Dingen aus. Sie sollten
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