Traumjäger (German Edition)
tauchte es in die schwarze, zähe Masse. Der Gestank des aufgewühlten Teers biss in meiner Nase. Ich ließ mir jedoch nichts anmerken, sondern ruderte tapfer weiter.
Nach ein paar Schlägen konnte ich keinen Grund mehr fühlen. Der Boden fiel steil unter dem See ab. Ich stellte mir vor, wie er immer weiter abfiel, weiter und weiter, bis ins tiefste und dunkelste Innere der Erde, ohne Ende. Und ich fuhr über diesen Abgrund!
Wir kamen nicht sehr schnell voran. Das Rudern war sehr anstrengend, weil der Teer so sehr an dem Holz der Ruderblätter klebte. Der Traumlose, der vor mir im Boot saß, fluchte, und auch ich schimpfte leise vor mich hin, aber nur, um nicht aufzufallen. Als Traumloser musste man schimpfen und fluchen. Ich durfte nicht weinen und nicht lachen. Ich durfte nicht traurig sein und mich nicht freuen. Ich durfte es nicht, weil sie es nicht konnten.
Der See war aufgewühlt durch die vielen hundert, tausend Ruderschläge, die den Teer bewegten. Unser Boot schaukelte leicht. Nach endloser Fahrt und nach endlosen Ruderschlägen – irgendwann, so etwa auf halber Strecke, hatte ich aufgehört sie zu zählen – kam der Felsen mit der unheimlichen Burg gefährlich nahe. Nur noch ein paar Züge und wir erreichten einen spitzen Felsvorsprung, an dem der Traumlose das Boot befestigte. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, dass er sich nach mir umdrehte, um etwas zu sagen, doch ich hatte mich bereits an dem Felsen hochgezogen und drehte mich nicht mehr nach ihm um.
Kapitel 20
Sorgul
D as erste, was mir auf dem Felsen auffiel, war, dass meine Augen mich auf dem See getäuscht hatten. Dort schien es, als wäre die Burg direkt auf dem großen Felsen errichtet worden. In Wirklichkeit war sie aber noch einige hundert Meter von hier entfernt. Der Felsen erstreckte sich grau und kalt zu ihr wie ein schäbiger, ausgerollter Teppich.
Noch größer, noch bedrohlicher ragte die Burg nun empor, die Burg des Herrschers der Dunkelheit!
Noch kleiner und unbedeutender fühlte ich mich bei ihrem Anblick. Andreas Muskert, der Traumjäger – Andreas Muskert… nur ein kleiner, verängstigter Junge in der schrecklichen Maske eines Traumlosen!
Aller Mut wollte mich verlassen.
Was suchte ich eigentlich hier? Was hatte ich hier verloren?
Ich musste Tom helfen.
Doch was konnte ich denn schon ausrichten? Vielleicht war auch alles schon zu spät!
Vielleicht…
Überall kletterten die Traumlosen aus den Booten heraus und zogen sich an den zerklüfteten Felsvorsprüngen hoch. Am nackten Stein hallten ihre kalten Stimmen unheimlich wider.
Ich fasste mir ein Herz und beeilte mich, mit den Schwarzbekleideten Schritt zu halten, denn von hier aus strömten sie über den Felsen zu der unheimlichen Festung.
Während ich mir einen Weg durch die Menge bahnte, achtete ich sorgsam darauf, dass meine tarnende Decke durch das rücksichtslose Gedränge der Traumlosen nicht verrutschte.
Sollten sie ruhig glauben, ich wäre einer der ihren. Sollte die Maske mich ruhig schützen, so lange sie es vermochte!
Weit vor mir, unter den hohen Wachtürmen der Burg, sammelten sich die Traumlosen. Die Menge geriet langsam ins Stocken. Zu viele schwarze Gestalten, die dem Ruf Sorguls mit großer Erwartung gefolgt waren, hatten sich schon auf den besten Plätzen vor dem Burghof versammelt.
Ich wurde hin und her geschoben. Die Traumlosen schimpften und fluchten, da sie nicht näher an das Geschehen herankommen konnten. Auch ich ärgerte mich. Ich reckte mich, trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, doch selbst auf Zehenspitzen konnte ich nicht über die vielen schwarzen Köpfe und Gewänder hinwegblicken.
Mir war klar, dass ich nicht hier hinten bleiben konnte. Was auch Furchtbares geschehen mochte, ich musste es von vorne sehen. Von ganz vorne.
Fragt mich nicht, woher ich es wusste, aber ich fühlte, dass Tom an diesem unheimlichen Fest der Traumlosen teilnehmen würde. Und ich wollte Tom sehen, mehr als alles andere! Vielleicht dachte ich, dass dann alles gut werden würde…
Zum ersten Mal in meinem Leben war ich glücklich darüber, klein und unscheinbar zu sein! Ja, hier kam es mir sehr gelegen. Ich ließ mich ganz einfach auf die Knie nieder und krabbelte unauffällig durch die Menge der Traumlosen. Ich krabbelte zwischen den schwarzen Gewändern, zwischen den langen, dünnen Beinen der Traumlosen hindurch, die Decke fest um mich gewickelt. Ich krabbelte, mit klopfendem Herzen, krabbelte, unbemerkt, bis ich ganz vorne, neben
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