Traumkristalle
Magnetnadel und der Intensität der magnetischen Kraft den Ort auf der Erdoberfläche bis auf den zehnten Teil der Sekunde, das ist also fast auf drei Meter, genau ablesen ließ. Auch der Angeredete zog ein kleines Instrument aus der Tasche: Es war ein Manometer, das ihm den Druck des Wassers und damit die Tiefe angab, in welcher er sich befand.
„Und doch“, sagte er, indem er einen Blick auf das Manometer warf, „haben wir schon eine Tiefe von 5400 Metern erreicht, und es ist gut, daß ich meinen neuen Tiefenanzug angelegt habe. So aber befinde ich mich bei diesem Drucke von einem halben Tausend Atmosphären ganz wohl, und ich begleite Sie noch ein Stück.“
„Sehr hübsch, Herr Kotyledo – und doch wundre ich mich, daß Sie heute nicht das Psychäon besuchen. Sie sind ja ein Stimmungsmensch und dafür bekannt; und Fräulein Lyrika – nun, Sie brauchen sich nicht zu verteidigen, ich verrate Sie nicht. Ich verstehe Ihre Gefühle, obgleich ich der würdige Professor der Geschichte und Direktor des Pädagogii Hemisphäriani bin; aber – Sie wissen, ich bin auch aus dem alten Stamme der Prudel- und Strudelwitze, vereinigte Geschlechter, und so kennen wir das.“
„Sie irren sich, Herr Strudel“, entgegnete Kotyledo ernst. „Ich besuche das Psychäon nicht mehr. Doch lassen wir das – ich bin nicht imstande, darüber zu sprechen. Lieber erzählen Sie mir, was Sie in diese abgelegenen Zonen des Ozeans führt.“
„Recht gern“, erwiderte Strudel; „aber sagen Sie mir bitte vorher, was mir das Vergnügen Ihrer Begleitung verschafft.“
„Nur eine wissenschaftliche Exkursion, die ich vorhabe, weiter nichts; ich will ein wenig die submarine Flora studieren. Auf der Oberwelt, wird ja leider die Botanik bald keinen Gegenstand ihrer Forschung mehr finden. Meine Lieblinge, die Pflanzen, sind ein aussterbendes Geschlecht von Organismen.“
„Gerade wie die Strudel-Prudel, verehrter Herr Kotyledo, gerade wie Sie! Sie sehen in mir den letzten Sproß des einst so berühmten Geschlechts. Und ich bin auf dem Wege, die Wiege meines Stammes aufzusuchen, die Stätte zu erforschen, von wo das berühmte Geschlecht derer von Strudel-Prudel einst als urzeugungsstolzes Moner seinen glorreichen Entwicklungsprozeß antrat. Meine einzige Erholung ist es, meine zurückgebliebenen Vettern von der Linie Strudula-Gastrula zu sehen; bei ihnen vergesse ich die rauhe Gegenwart und bekomme Lust, mein Wirken in ihr aufzugeben. Lächeln Sie nicht, es ist mir ernsthaft melancholisch zumute.“
„Nein, nein – bitte, fahren Sie fort.“
„Endlich ist es mir gelungen, meinen Stammbaum bis in die Laurentische Periode zurückzuführen, die Linie meiner Vorfahren bis zu den niedrigsten Organismen des Meeres zu verfolgen – und nun ist meine Lebensaufgabe gelöst. Es ist eine traurige, aber großartige Resignation, der ich mich unterziehe, aber ich kann nicht anders. Ruhmreich war unser Geschlecht und altbekannt sein Name. Ich besitze eine Reihe von Versteinerungen und Knochen, welche nachweislich meinen Vorfahren angehört haben, während sie die Reihe der Entwicklung von den Kalkschwämmen bis zu den Wirbeltieren emporgestiegen sind. Ich besitze den Zahn eines Beuteltieres, welches zu meinen direkten Ahnen zählt.
Wir haben in einem Kjökkenmöddinger Austernschalen mit dem deutlichen Handzeichen der Prudel und in einer französischen Höhle das Skelett eines Höhlenbewohners gefunden, der bereits das Wappen der Strudel auf ein Renntiergeweih eingeritzt bei sich trug. Von den historischen Zeiten brauche ich nicht zu reden. Die römischen Legionen unter Varus und Scharen der Ungläubigen in den Kreuzzügen haben unsern Arm gefühlt; wir haben im neunzehnten Jahrhundert eine Rolle in der Literatur gespielt als Barone von Strudelwitz; später vereinigten wir uns mit denen von Prudelwitz. Der Urururgroßvater meines Urururgroßvaters war der letzte Gardeleutnant. Glückliche Zeiten! Sehen Sie, verehrter Freund, wer eine solche Reihe von Ahnen vor sich hat, der bescheidet sich gern: Jedes Geschlecht hat seine Zeit; die unsere hat geblüht. Diese Kette von siebenundvierzig Gliedern ist aus der komprimierten Asche von siebenundvierzig direkten Vorfahren angefertigt. Es ist nicht anzunehmen, daß nach mir unser Geschlecht zu noch höherer Reife sich entwickeln könne. Ich lebe daher ganz, meiner historischen Neigung gemäß, im Kultus der Vergangenheit; ich wallfahre nach der Wohnstätte meiner Urahnvettern, dort will ich mir ein
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