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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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wühlte zwischen alten Zeitungen herum, bis er ein Buch mit einem dunkelroten Leineneinband fand. Er setzte sich wieder, rückte seine Brille zurecht und drückte seinen Rücken an der Stuhllehne platt.
    »Und jetzt«, verkündete er und tat, als öffne er das Buch an irgendeiner beliebigen Stelle, »jetzt werden wir das Evangelium nach unserem Vater Marx lesen. Verzeiht einem alten Mann die Blasphemien! Für heute – was zum Teufel für ein Tag ist heute? Donnerstag … hab’ ich mir doch gedacht! Das Datum ist unwichtig … Seite 256 … Und was haben wir da –?
    ›Worin besteht nun die Entäußerung der Arbeit? Erstens, daß die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d.h. nicht zu seinem Wesen gehört, daß er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert.‹
    Es gibt nichts Besseres als ein paar Zeilen Marx vor dem Essen«, erklärte er strahlend. »Zur Stärkung des Geistes und zur Förderung der Verdauung! Habt ihr Jungs gegessen?«
    »Haben wir«, sagte Arkady.
    »Egal, ihr eßt jetzt mit mir.«
    »Nein, ehrlich, Jim. Wir können nicht.«
    »Und ob ihr könnt!«
    »Wir kommen zu spät.«
    »Zu spät? Was ist spät, und was ist früh? Eine wichtige philosophische Frage!«
    »Wir werden zu spät kommen und eine junge Dame namens Marian nicht mehr antreffen.«
    » Keine philosophische Frage!« sagte er. »Wer zum Teufel ist Marian?«
    »Eine alte Freundin von mir«, sagte Arkady. »Sie arbeitet für den Landrechte-Rat. Sie hat die Kaititj-Frauen abgeholt. Wir treffen sie in Middle Bore.«
    »Marian! Die Jungfrau Marian!« Hanlon schmatzte mit den Lippen. »Fährt runter nach Middle Bore mit ihrem Gefolge schöner Edelfräulein. Ich sage euch, die können warten. Geh und hol die Steaks, Junge!«
    »Nur wenn es schnell geht, Jim«, gab Arkady nach. »Wir haben eine Stunde, nicht mehr.«
    »Gib mir … gib mir … eine Stunde … eine Stunde … mit dir …«
    Man hörte, daß Hanlon früher eine annehmbare Baritonstimme gehabt hatte. Er sah mich an. »Sehen Sie mich nicht so an!« fauchte er. »Ich habe in Chören gesungen.«
    Arkady ging hinaus, um die Steaks aus dem Wagen zu holen.
    »Sie sind also Schriftsteller, was?« sagte Hanlon zu mir.
    »Gewissermaßen.«
    »Haben Sie je in Ihrem Leben einen Tag lang richtig gearbeitet?«
    Seine blauen Augen tränten. Seine Augäpfel hingen in Netzen aus roten Fäden.
    »Ich versuche es«, sagte ich.
    Die schlaffe Hand schoß nach vorn. Sie war violett und wächsern. Der kleine Finger fehlte. Er hielt mir die Hand wie eine Klaue vor das Gesicht.
    »Wissen Sie, was das ist?« höhnte er.
    »Eine Hand.«
    »Eine Arbeiterhand.«
    »Ich habe auf einer Farm gearbeitet«, sagte ich. »Und als Holzfäller.«
    »Holzfäller? Wo?«
    »Schottland.«
    »Was für Holz?«
    »Fichten … Lärchen …«
    »Sehr überzeugend! Was für eine Säge?«
    »Motorsäge.«
    »Welche Marke, Sie Idiot?«
    »Kann mich nicht erinnern.«
    »Nicht sehr überzeugend«, sagte er. »Hört sich irgendwie komisch an.«
    Arkady kam mit den Steaks durch die Tür. An der weißen Plastiktüte waren Blutstropfen. Hanlon nahm die Tüte, öffnete sie und atmete tief ein.
    »Aha! Schon besser!« sagte er grinsend. »Zur Abwechslung schönes rotes Fleisch.«
    Er stand auf, zündete das Gas an, goß Öl aus einer al ten Farbbüchse in eine Pfanne und legte die drei Steaks hinein.
    »Sie da!« rief er mir zu. »Kommen Sie her und reden Sie mit dem Koch.«
    Das Öl begann zu spritzen, und er nahm einen Spachtel, um zu verhindern, daß das Fleisch anbrannte.
    »Sie schreiben also ein Buch?«
    »Ich versuche es«, sagte ich.
    »Warum schreiben Sie Ihr Buch nicht hier? Sie und ich könnten erbauliche Gespräche führen.«
    »Das könnten wir«, sagte ich zögernd.
    »Ark!« rief Hanlon. »Paß eine Minute auf die Steaks auf, einverstanden, Junge? Ich werde dem Schreiber sein Quartier zeigen. Hier! Sie kommen mit mir!«
    Er ließ das Handtuch auf den Boden fallen, zog ein Paar Shorts an und schlüpfte in Sandalen. Ich folgte ihm ins Sonnenlicht. Der Wind hatte aufgefrischt und wirbelte rote Staubwolken über den Weg. Wir gingen zwischen den Tamarisken hindurch zu einem knarrenden Gummibaum, unter dem ein Wohnwagen stand.
    Er öffnete die Tür. Es roch nach etwas Verwestem. Die Fenster waren mit Spinnweben verhangen. Das Bettzeug war fleckig und zerrissen.

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