Traumschlange
Melissa«, flüsterte Schlange. »Wach auf, du hast nur einen bösen Traum.«
Einen Moment später setzte sich Melissa kerzengerade auf. »Was...«
»Ich bin‘s, Schlange. Du hattest nur einen Alptraum.«
»Ich dachte, ich wäre in Berghausen.« Melissas Stimme zitterte. »Ich dachte, Ras...«
Schlange drückte sie an sich, streichelte ihr weiches, lockiges Haar.
»Vergiß das alles. Du brauchst nie wieder dorthin.« Sie spürte, wie Melissa nickte. »Soll ich hier an deiner Seite bleiben? Oder würde dir das nur neue Alpträume verursachen?«
Melissa zögerte. »Bitte bleib hier«, sagte sie leise.
Schlange legte sich neben sie und breitete die Decken über sie beide. Die Nacht war kühl, aber Schlange war froh, nicht länger in der Wüste zu sein, sondern wieder in einer Gegend, wo der Erdboden die Hitze des Tages nicht unersättlich speicherte. Melissa kuschelte sich an sie. Die Finsternis war undurchdringlich, aber Schlange hörte an Melissas Atem, daß sie schon wieder schlief. Vielleicht war sie gar nicht ganz wach gewesen. Für eine Weile konnte Schlange nicht einschlafen. Sie hörte den rauhen Atem des Verrückten, fast ein Schnarchen, das Gluckern des nahen Bächleins, das Klingen der Hufe von Wind und Eichhörnchen, wenn die Pferde sich nächtlicherweise regten, am rauhen Grund.
Ihre Schulter und die Hüfte lagen ungemütlich hart unter ihr, und über ihr leuchtete kein Stern, kein Mondschein drang durch die Wolkendecke.
Die Stimme des Verrückten klang laut und jämmerlich, aber erheblich kräftiger als am Vortag. »Laßt mich aufstehen. Bindet mich los. Wollt ihr mich denn zu Tode martern? Ich muß pissen. Ich habe Durst.«
Schlange warf die Decken beiseite und setzte sich auf. Sie fühlte sich versucht, ihn zuerst trinken zu lassen, aber dann befand sie, daß es sich dabei nur um eine unwürdige Rachsucht handelte, weil er sie so früh geweckt hatte. Sie erhob sich und reckte die Glieder, gähnte; dann winkte sie Melissa zu, die zwischen Wind und Eichhörnchen stand; die beiden Tiere drängten mit ihren Mäulern nach dem Frühstück. Melissa lachte und winkte zurück. Der Verrückte zerrte an den Gurten.
»Nun, was ist? Darf ich jetzt endlich aufstehen?«
»Einen Moment.«
Sie benutzte die Grube, welche sie hinter einigen Sträuchern angelegt hatten, und ging ans Wasser, um sich ein paar Handvoll ins Gesicht zu Spritzen. Sie hätte gern ein Bad genommen, aber soviel Wasser lieferte die Quelle nicht, und allzu lange wollte sie den Verrückten auch gar nicht zappeln lassen.
Sie kehrte zurück zum Lagerplatz und löste die Gurte von seinen Handgelenken. Er richtete sich auf, rieb sich die Hände und murrte unverständlich vor sich hin, dann entfernte er sich.
»Ich möchte nicht zudringlich sein«, sagte Schlange, »aber du bleibst in Sichtweite, klar?«
Er knurrte etwas, begab sich aber nur so weit in die natürliche Deckung der Sträucher, daß man ihn noch sehen konnte. Er kam zu Schlange zurückgeschlurft, setzte sich nieder und bemächtigte sich des Wasserschlauchs. Durstig trank er undwischte sich den Mund mit dem Ärmel, dann stierte er hungrig umher.
»Gibt‘s Frühstück?«
»Ich dachte, du wolltest sterben.« Er schnob.
»In meinem Lager pflegt jedermann für sein Essen zu arbeiten«, sagte Schlange. »Du wirst mir dafür schön brav die Wahrheit erzählen.«
Der Mann senkte den Blick und seufzte. Er besaß dunkle, buschige Brauen, die seine hellen Augen überschatteten. »Also gut«, sagte er, schlug die Beine übereinander und stützte die Unterarme auf die Knie; seine Hände hingen matt herab. Seine Finger bebten. Schlange wartete, aber er schwieg. In den vergangenen Jahren waren zwei Heiler verschollen. Schlange erinnerte sich noch mit ihren Kindernamen an sie, die Namen, welche sie trugen, bevor sie auszogen, um ihr Erprobungsjahr herumzubringen.
Philippe hatte sie nie besonders nahegestanden, aber Jenneth war ihr eine der liebsten älteren Schwestern gewesen, einer der drei Menschen, denen sie sich am stärksten verbunden gefühlt hatte. Noch heute steckte ihr das damalige Entsetzen in den Gliedern, als am Ende von Jenneths Erprobungsjahr der Winter verstrich, der Frühling verging, Tag um Tag verflog, bis die Gemeinschaft der Heiler langsam einsah, daß sie nicht wiederkehren werde. Sie hatten nie erfahren, was mit ihr geschehen war. Manchmal kam ein Bote, wenn ein Heiler in der Fremde gestorben war, und brachte der Niederlassung die traurige Kunde, und bisweilen
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