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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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den Blick starr gegen den Himmel gerichtet. Jedesmal, wenn er zwinkerte, rann eine neue Träne über sein Gesicht und spülte in einem neuen Streifen den Staub und Schmutz fort. Schlange gab ihm etwas Wasser zu trinken und kauerte für eine Weile an seinerSeite, um ihn zu beobachten, während sie überlegte, was seine sonderbaren Äußerungen – falls sie überhaupt irgend etwas besagten – bedeuten mochten. Er war in der Tat verrückt, aber nicht unberechenbar wahnsinnig; ihn trieb Verzweiflung an.
    »Er wird jetzt nichts mehr anstellen, oder?« fragte Melissa.
    »Ich glaube, nein.«
    »Wegen ihm ist mir das Holz hingefallen«, sagte Melissa. Sichtlich verdrossen entfernte sie sich zu den Felsen.
    »Melissa...!« Sie blickte sich um. »Ich hoffe, die Sandnatter hat sich davongemacht, aber es könnte sein, daß sie noch irgendwo herumlungert. Wir zünden heute abend lieber kein Feuer an.«
    Melissa zögerte so lange, daß Schlange schon meinte, sie werde erwidern, sie zöge die Gesellschaft der Sandnatter der des Verrückten vor, aber schließlich zuckte sie mit den Achseln und ging hinüber zu den Pferden. Schlange setzte erneut Wasser an die Lippen des Verrückten. Er schluckte einmal, dann ließ er das Wasser aus seinen Mundwinkeln durch einen mehrere Tage alten Bartwuchs rinnen; es bildete auf dem harten Grund unter ihm eine kleine Pfütze und zerfloß dann in winzigen Zungen.
    »Wie heißt du?«
    Schlange wartete, aber er gab keine Antwort. Sie fragte sich schon, ob er katatonisch geworden sei, als er plötzlich mühsam und wie nach beträchtlicher Willensanstrengung die Schultern zuckte.
    »Du mußt doch einen Namen haben.«
    »Vermutlich«, sagte er; seine Hände zuckten, er leckte seine Lippen und blinzelte, und weitere Tränen durchfurchten den Staub auf seinen Wangen. »Vermutlich hatte ich einmal einen Namen.«
    »Was meinst du mit deiner Äußerung über das Glück, das du angeblich anstrebst? Warum wolltest du meine Traumschlange haben? Bist du todkrank?«
    »Ich hab‘s dir ja gesagt.«
    »Wodurch?«
    »Gier.«
    Schlange runzelte die Stirn. »Gier wonach?«
    »Nach einer Traumschlange.«
    Schlange seufzte. Ihre Knie schmerzten. Sie machte es sich bequemer, setzte sich neben ihm mit übereinandergeschlagenen Beinen auf den Untergrund, Schulter an Schulter mit dem Verrückten.
    »Ich kann dir nicht beistehen, wenn du mir nicht verrätst, was eigentlich mit dir los ist.«
    Er setzte sich mit einem Ruck auf, fummelte an der Robe, die er vorhin erst sorgsam in Ordnung gebracht hatte, zerrte an dem verschlissenen Stoff, bis das Gewebe zerriß. Er warf die Seiten auseinander und entblößte seine Kehle, hob das Kinn.
    »Sieh das, dann weißt du alles, was du wissen mußt!«
    Schlange beugte sich vor und begutachtete seinen Hals genauer. Zwischen den borstigen Haaren eines Bartes sah sie zahlreiche winzige Narben, alle paarweise rund um die Halsschlagader verteilt. Bestürzt zuckte sie zurück. Die Fänge einer Traumschlange hatte diese Male erzeugt, daran gab es keinen Zweifel, aber sie konnte sich keine so schwere und schmerzhafte Krankheit vorstellen, geschweige denn sich auf eine besinnen, die soviel Gift erforderte, um die Schmerzen zu lindern, den Betroffenen jedoch am Ende nicht das Leben kostete. Diese Narben waren im Lauf eines beträchtlichen Zeitraums entstanden, manche waren alt und weiß, einige so frisch und schimmrig rosa, daß sie eben erst verschorft gewesen sein mußten, als er ihr Lager zum ersten Mal überfiel.
    »Begreifst du nun?«
    »Nein«, sagte Schlange, »nicht. Was war denn...«
    Sie unterbrach sich und legte die Stirn in Falten. »Warst du Heiler ?«
    Aber das war unmöglich. Sie hätte ihn gekannt oder zumindest von ihm gehört. Außerdem wirkte Traumschlangengift auf Heiler nicht mehr als das Gift irgendeiner anderen Schlange. Sie konnte sich keinen Grund denken, warum ein Mensch soviel Traumschlangengift über eine so lange Zeitspanne hinweg benötigen sollte. Wegen dieses Mannes mußten viele andere unter Qualen gestorben sein, wer oder was er auch sein mochte. Der Verrückte schüttelte den Kopf und sackte zurück auf den Erdboden.
    »Nein, war nie ein Heiler... ich nicht. Wir brauchen in der zerstörten Kuppel keine Heiler.«
    Schlange wartete, zwar ungeduldig, aber nicht geneigt, das Gespräch auf etwas anderes zu lenken. Der Verrückte leckte sich die Lippen. »Wasser...‚bitte.«
    Schlange hielt es ihm erneut an den Mund, und er trank gierig, diesmal ohne zu seibern und

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