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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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ihre Tochter bist.«
    »Ich möchte nicht ihre Tochter sein. Ich will deine Tochter sein.«
    »Das bist du. Ganz gleich, was geschieht.«
    Sie nahm einen tiefen Atemzug und atmete langsam aus.
    »Führt ein Weg nach oben?« fragte sie den Verrückten. »Wie gelangt man am schnellsten hinauf?«
    »Kein Weg... öffnet sich vor mir, schließt sich hinter mir.«
    Schlange merkte, wie sich Melissa eine höhnische Bemerkung verkniff.
    »Dann wollen wir gehen«, sagte sie, »und hoffen, daß dein Zauber auch bei zwei Personen wirkt.«
    Nochmals drückte sie Melissa an sich, und Melissa klammerte sich an sie, zeigte deutlichen Widerwillen dagegen, sie gehen zu lassen.
    »Es wird schon alles klappen«, meinte Schlange. »Mach dir keine Sorgen.«
     
    Der Verrückte kletterte erstaunlich schnell aufwärts, beinahe so, als erschlösse sich ihm tatsächlich ein Weg, ihm ganz allein. Schlange mußte sich mächtig anstrengen, um Anschluß zu halten, und bald brannte in ihren Augen Schweiß. Sie überwand einige Meter harten schwarzen Gesteins und griff nach seiner Robe, bekam sie zu fassen.
    »Nicht so eilig.« Sein Atem ging schnell, aber nicht aus körperlicher Anstrengung, sondern aus Erregung. »Die Traumschlangen sind zum Greifen nah«, sagte er. Ruckartig befreite er seine Robe aus ihrer Hand und erkletterte ein steiles, kahles Stück Hang mit affenartiger Geschwindigkeit. Schlange wischte sich die Stirnam Ärmel trocken und kletterte ihm nach. Als sie ihn das nächste Mal einzuholen vermochte, packte sie ihn bei der Schulter und ließ nicht locker, bis er sich auf einem Felssims niederließ.
    »Hier verschnaufen wir«, sagte sie, »und wenn wir weiterklettern, dann langsamer und ruhiger. Andernfalls werden deine Freunde unsere Ankunft bemerken, bevor wir Wert darauf legen.«
    »Die Traumschlangen...«
    »Zwischen uns und den Traumschlangen steht North. Ließe er dich hinein, wenn er dich jetzt sieht?«
    »Du wirst mir eine Traumschlange geben? Eine für mich allein? Anders als North?«
    »Anders als North«, bestätigte Schlange. Sie saß in einem schmalen Streifen Schatten, den Rücken an das Vulkangestein gelehnt. Unten im Tal sah sie hinter dunklem Immergrün eine Ecke der Wiese, aber weder Wind noch Eichhörnchen zeigten sich auf diesem Teil der Lichtung. Aus dieser Höhe sah der Winkel wie ein Stückchen Samt aus. Schlange fühlte sich einsam.
    Der Felsabhang war keineswegs so kahl, wie er von unten wirkte. Da und dort bildeten Flechten grüngraue Polster, und in schattigen Spalten gediehen kleine, dickblättrige Sukkulenten. Schlange beugte sich vor, um eines der Gewächse genauer zu begutachten. Im Schatten und vor dem Hintergrund schwarzen Steins war die Farbe unbestimmbar. Mit einem Ruck straffte sie sich. Sie nahm einen Steinsplitter zur Hand und beugte sich wieder über die geduckte, blaugrüne Pflanze. Mit dem Stein berührte sie die Blätter. Sie schlossen sich vor der Umwelt ab. Sie ist dort oben entstanden, dachte Schlange. Sie stammt aus der zerstörten Kuppel. So etwas war natürlich zu erwarten gewesen; sie hätte sich denken können, daß sie hier Dinge vorfinden mußte, die nicht auf die Erde gehörten. Sie berührte die Pflanze noch einmal von derselben Seite. Das fremdartige Kraut war tatsächlich bewegungsfähig. Es würde mit der Zeit, wenn man es ließ, allmählich den ganzen Berg hinunterkriechen und sich womöglich ausbreiten. Schlange schob die Spitze des flachen Steins darunter und kippte das Gewächs aus seinem Wurzelbett, warf es um. Mit Ausnahme des Büschels Wurzeln in seiner Mitte blieb sein Aussehen unverändert; die leuchtend türkisgrünen Blätter drehten sich an den Blattansätzen, suchten einen Halt. Schlange hatte diese Art noch nie gesehen, aber schon ähnliche Geschöpfe – oder Pflanzen (sie fügten sich nicht so recht in die übliche Klassifikation) –,die über Nacht ein ganzes Feld überwuchert und das Erdreich vergiftet hatten, so daß nichts anderes mehr wuchs. In einem Sommer vor mehreren Jahren hatten sie und die anderen Heiler mitgeholfen, auf benachbarten Höfen ganze Dikkichte solcher Gewächse niederzubrennen.
    Sie waren nicht von neuem emporgewuchert, aber von Zeit zu Zeit entdeckte man stellenweise immer noch derartige Pflanzen; die von ihnen zuvor eroberten Felder waren unbrauchbar geworden und galten seither als verbotenes Land.
    Schlange hätte am liebsten auch dies Exemplar ohne weitere Umstände verbrannt, aber sie konnte gegenwärtig unmöglich ein Feuer

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