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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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tausendfach für die versprochene Traumschlange, im nächsten Augenblick stöhnte und weinte er und jammerte, er sei so gut wie tot, weil North ihn umbringen werde. Es beeindruckte ihn nicht, forderte man ihn auf, den Mund zu halten.
    Schlange war froh, wieder in den Bergen zu sein, wo man am Tage reisen konnte. Der Morgen war kühl und geisterhaft, der Pfad schmal und verhangen von Nebel. Die Pferde wateten wie Wassergeschöpfe durch die Schwaden, die sich wie Fangarme um ihre Beine wanden. Schlange atmete tief ein, bis die kalte Luft in ihren Lungen stach. Sie roch den Nebel, die fruchtbare Muttererde, einen feinen, scharfen Geruch von Harz. Ringsum war die Welt grau und grün, denn die Blätter an den Bäumen, deren Astwerk über den Pfad hinausragte, hatten sich noch nicht verfärbt. Höher am Berg wirkten die dunkleren Allzeitbäume durch den Dunst beinahe schwarz. Melissa ritt an Schlanges Seite, wachsam und wortkarg. Sie hielt sich nicht näher beim Verrückten auf, als es unbedingt sein mußte. Er befand sich unsichtbar irgendwo hinter ihnen, man hörte ihn nur. Sein alter Gaul vermochte mit Wind und Eichhörnchen nicht recht mitzuhalten, aber wenigstens saß jeder auf einem eigenen Pferd.
    Allmählich vernahmen sie seine Stimme immer leiser. Ungeduldig zügelte Schlange ihre Stute, um ihn aufholen zu lassen. Melissa wartete mit noch stärkerem Widerwillen. Der Verrückte hatte es abgelehnt, ein besseres Tier zu reiten; angeblich war dies allein ruhig genug für ihn. Schlange hatte den vorherigen Besitzern des Kleppers das Geld regelrecht aufdrängen müssen, und sie glaubte nicht, daß sie es nicht verkaufen wollten, weil sie nicht erfreut über die Möglichkeit gewesen wären, das Tier loswerden zu können oder um einen höheren Preis zu erhandeln. Jean und Kev war es aufrichtig peinlich gewesen, dieses Geschäft zu tätigen. Aber Schlange hatte aufgrund der Gesellschaft des Verrückten nicht weniger Verlegenheit empfunden.
    Sein Pferd kam durch den Nebel herangeschlendert; die Lider des Tieres hingen herab, seine Ohren wackelten. Der Verrückte summte tonlos vor sich hin.
    »Ist dir dieser Pfad noch vertraut?«
    Der Verrückte stierte sie an und lächelte.
    »Für mich sieht alles gleich aus«, sagte er und lachte. Es nutzte überhaupt nichts, schnauzte man ihn an, verspottete man ihn oder stieß Drohungen gegen ihn aus. Seit ihm eine Traumschlange versprochen worden war, verspürte er anscheinend weder Unbehagen noch Gier, als habe ihn bereits die Vorfreude aufgemöbelt und zufriedengestellt. Er summte und murmelte unaufhörlich und machte unbegreifliche Scherze, und manchmal richtete er sich im Sattel auf, glotzte umher und schrie »Immer nach Süden!«, um wieder mit eintönigem Gesumme zu beginnen. Schlange seufzte und ließ den alterskrummen Gaul des Verrückten vorbeischlurfen, damit er sie anführe.
    »Ich zweifle daran, daß er uns irgendwohin bringt, Schlange«, sagte Melissa. »Ich glaube, er führt uns bloß herum, damit wir uns mit ihm beschäftigen. Wir sollten ihn zurücklassen und uns etwas anderes überlegen.«
    Der Verrückte versteifte sich im Sattel. Langsam drehte er sich rückwärts. Schlange war überrascht, als sie aus seinem Auge eine Träne fließen und über seine Wangen rollen sah. »Verlaßt mich nicht«, sagte er. Seine Miene und sein Tonfall waren schlichtweg mitleiderregend. Soviel Anteilnahme an seiner Umwelt hatte er bisher nicht gezeigt. Er starrte Melissa an, blinzelte mit seinen wimpernlosen Lidern.
    »Es ist dein gutes Recht, mir nicht zu trauen, Kleines«, sagte er. »Aber bitte, laß mich nicht im Stich.« Sein Blick verschleierte sich, und auf einmal klang seine Stimme geistesabwesend. »Bleib bei mir in der zerstörten Kuppel, und wir werden beide unsere eigene Traumschlange haben. Bestimmt gibt deine Herrin dir auch eine.« Er beugte sich zu Melissa hinüber, hob eine Hand, die Finger verkrümmt zu Klauen. »Du vergißt alle schlimmen Erinnerungen und Sorgen, du kannst deine Narben vergessen...«
    Mit einem unverständlichen Fluch der Wut und Entrüstung zuckte Melissa vor ihm zurück. Sie preßte Eichhörnchen die Beine in seine Flanken und trieb das Tigerpony aus dem Stand in einen Galopp, dicht über die Mähne gebeugt, und sah sich kein einziges Mal um. Einen Moment später war sie zwischen den Bäumen und dem Nebel verschwunden, und man vernahm nur noch den dumpfen Klang von Eichhörnchens Hufen. Schlange betrachtete den Verrückten ratlos.
    »Wie konntest du

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