Traumschlange
Respekt und sogar Ehrfurcht musterte.
»Schlangen!« fauchte der Bürgermeister.
Schlange verspürte keine Neigung, ihre Kräfte mit Streitworten oder Überzeugungsversuchen zu vergeuden. Sie trat ans Fußende des Bettes und schlug die Dekken zur Seite, um das verletzte Bein des Bürgermeisters zu untersuchen. Er wollte sich aufsetzen und Widerspruch erheben, aber plötzlich sank er zurück und atmete schwerer, das Gesicht wächsern und glitzrig von Schweiß. Gabriel trat zu Schlange.
»Bleib lieber oben am Kopfende«, sagte Schlange zu ihm. Sie konnte schon den widerlichen Geruch der Infektion riechen. Das Bein bot einen scheußlichen Anblick. Wundbrand hatte eingesetzt. Das Fleisch war geschwollen, und knallrote Ausläufer erstreckten sich bereits bis in den Oberschenkel des Bürgermeisters.
In ein paar Tagen müßte das Gewebe absterben und schwarz werden, und dann wäre keine andere Wahl vorhanden als die Amputation. Der Geruch war nun stärker, in solchem Maße ekelhaft, daß er Übelkeit erregte. Gabriel sah bleicher aus als sein Vater.
»Du mußt nicht bleiben«, sagte Schlange.
»Ich...« Er schluckte, ehe er weitersprach. »Ich bin wohlauf.«
Schlange breitete die Decken wieder über das Bein, sorgsam darauf bedacht, auf den geschwollenen Fuß keinen Druck auszuüben. Den Bürgermeister zu heilen, war keineswegs das Problem. Womit sie sich auseinandersetzen mußte, war seine feindselige, ablehnende Einstellung.
»Kannst du ihm helfen?« fragte Gabriel.
»Ich kann selbst für mich sprechen«, fuhr der Bürgermeister dazwischen. Gabriel senkte den Blick mit ausdrucksloser Miene, von seinem Vater ignoriert, aber Schlange hatte den Eindruck, in seinem Gesicht eine Mischung aus Resignation und Kummer wahrzunehmen, dagegen keine Spur von Groll. Gabriel wandte sich ab und beschäftigte sich mit den Gaslampen. Schlange setzte sich auf die Bettkante und befühlte die Stirn des Bürgermeisters. Wie sie erwartet hatte, fühlte sie hohes Fieber. Er drehte den Kopf seitwärts.
»Schau mich nicht so an.«
»Sie können mich übersehen«, sagte Schlange. »Sie können auch anordnen, daß ich gehe. Aber die Infektion können Sie nicht mißachten, und sie wird nicht weggehen, weil Sie es wollen.«
»Ich lasse mir nicht das Bein absägen«, sagte der Bürgermeister, indem er jedes Wort einzeln und tonlos aussprach.
»Ich habe auch nicht die Absicht, dies zu tun. Es ist nicht nötig.«
»Brian braucht es nur zu waschen.«
»Er kann doch kein Gangrän fortwaschen!«
Schlange verspürte zunehmenden Ärger über die kindische Haltung des Bürgermeisters. Wäre er vom Fieber wirr gewesen, hätte sie unendliche Geduld aufgebracht; müßte er sterben, hätte sie Verständnis für seine Abneigung gehabt, die Wahrheit einzugestehen. Doch keines von beidem war der Fall. Anscheinend war er so daran gewöhnt, daß alles nach seinem Willen verlief, daß er sich mit seinem Mißgeschick nicht zurechtzufinden vermochte.
»Vater, hör auf sie, bitte!«
»Versuche nicht vorzutäuschen, du machtest dir Sorgen um mich«, entgegnete Gabriels Vater. »Du wärst ja heilfroh, wenn ich verrecke.«
Gabriel stand ein paar Sekunden lang reglos, weißlich wie Elfenbein, dann drehte er sich langsam um und verließ den Raum.
Schlange stand auf. »Das war eine gräßliche Bemerkung. Wie können Sie so etwas sagen? Jeder sieht, daß er Ihre Genesung wünscht. Er liebt sie.«
»Ich will weder seine Liebe noch deine Medizin. Nichts davon kann mir helfen.«
Mit geballten Fäusten folgte Schlange Gabriel nach draußen. Der junge Mann saß im Turmzimmer, dem Fenster zugewandt, an die Stufe gelehnt, welche die beiden unterschiedlichen Ebenen der Räumlichkeit bildeten. Schlange setzte sich neben ihn.
»Er meint nicht ernst, was er redet.« Gabriels Stimme klang gepreßt und zeugte von der erlittenen Demütigung. »In Wirklichkeit...«
Er beugte sich vor, das Gesicht in den Händen, und schluchzte. Schlange legte ihre Arme um ihn und versuchte ihn zu trösten, hielt ihn, klopfte ihm auf die starken Schultern, streichelte sein weiches Haar. Was auch die Ursache der Gereiztheit war, mit welcher der Bürgermeister seinem Sohn begegnete, Schlange war sich dessen sicher, daß es sich nicht um Abneigung oder Mißgunst auf Gabriels Seite handelte.
Er trocknete sich das Gesicht mit dem Ärmel.
»Danke«, sagte er. »Es tut mir leid. Aber wenn er sich so verhält...«
»Gabriel, sind bei deinem Vater schon früher Phasen der Instabilität
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