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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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derartige Operationen zu vermeiden.«
    Gabriel rief, als sie den Hauseingang erreicht hatten, und jemand öffnete das schwere Tor. Er grüßte den Diener und ließ ihn Eichhörnchen und Wind zu den Ställen hinabbringen. Schlange und Gabriel betraten die Eingangshalle, einen großen Raum, dessen schwarze Wände aus glattem, polierten Stein die Schritte hallen ließen und Bewegungen und verwaschene Gestalten widerspiegelten. Da es unten keine Fenster gab, war es darin recht düster, doch gleich darauf eilte ein anderer Diener herein und drehte die Gaslichter hoch. Gabriel setzte Schlanges zusammengerolltes Bettzeug am Fußboden ab, warf die Kapuze in den Nacken und ließ den Mantel von den Schultern gleiten. Die polierten Wände spiegelten verzerrt sein Gesicht wider.
    »Wir können dein Gepäck hier lassen, jemand wird sich darum kümmern.«
    Schlange lachte verstohlen, als sie ihn ihr Bettzeug »Gepäck« nennen hörte, als wäre sie eine reiche Händlerin, die auf ihrer Geschäftsreise hier einkehrte. Gabriel wandte sich ihr zu. Schlange, die nun sein Gesicht zum ersten Mal sah, verschlug es den Atem. Die Berghausener waren sich ihrer Ansehnlichkeit wohlbewußt; weil dieser junge Mann in einem solchen Mantel mit Kapuze durch die Straßen gegangen war, hatte Schlange schon angenommen, er sei von außerordentlich schlichtem Aussehen, womöglich gar vernarbt oder deformiert. Darauf war sie bereits innerlich vorbereitet. Aber in Wirklichkeit war Gabriel die allerschönste Person, die sie jemals gesehen hatte. Er besaß einen kraftvollen und wohlgewachsenen Körper. Sein Gesicht war ziemlich kantig, bestand jedoch – im Gegensatz zu Arevins Gesicht – nicht bloß aus Flächen und Winkeln; es drückte höhere Empfindsamkeit aus, oberflächennahe Gefühle. Er trat näher, so daß sie erkennen konnte, daß seine Augen eine seltene hellblaue Färbung besaßen.
    Seine Haut war zum gleichen Farbton gebräunt wie sein dunkelblondes Haar. Schlange vermochte nicht zu sagen, warum er so schön war – ob es an der Regelmäßigkeit seiner Gesichtszüge lag, ihrer Ausgewogenheit und seiner makellosen Haut, oder an zunächst weniger offenkundigen Vorzügen oder allem zusammen und noch mehr; aber er war schlichtweg atemberaubend schön.
    Gabriel sah Schlange erwartungsvoll an, und plötzlich begriff sie, daß er meinte, sie werde auch die Lederschachtel in der Eingangshalle stehenlassen. Die Wirkung, die er auf sie ausübte, schien er gar nicht zu bemerken.
    »Darin sind meine Schlangen«, sagte sie. »Ich habe sie ausnahmslos immer bei mir.«
    »Oh... entschuldige.« Er begann zu erröten. Die Röte schwoll an seinem Hals hinauf in die Wangen. »Ich hätte wissen müssen...«
    »Macht nichts, es ist nicht so wichtig. Ich glaube, ich schaue mir deinen Vater lieber so bald wie möglich an.«
    »Natürlich.«
    Sie erstiegen eine breite Wendeltreppe aus steinernen Quadern, deren Kanten durch viele, viele Füße und Jahre abgerundet waren. Schlange war noch nie einer außergewöhnlich schönen Person begegnet, die so empfänglich für Kritik war wie Gabriel, zumal unbeabsichtigter Kritik. Verführerisch schöne Menschen besaßenoft eine Aura von Selbstvertrauen und Sicherheit, manchmal bis zur Überheblichkeit. Gabriel dagegen machte einen übertrieben empfindsamen Eindruck. Schlange fragte sich, wodurch er so geworden sein mochte. Die dicken Mauern der Steinbauten in den Gebirgsorten hielten ihre Räumlichkeiten stets fast gleich temperiert. Nach so langer Zeit in der Wüste war Schlange froh über die Kühle. Sie wußte, daß sie von dem Marsch schweißig und staubig war, doch im Augenblick verspürte sie keine Müdigkeit. Die Lederschachtel wog nicht zu schwer in ihrer Hand. Ein einfacher Fall von Infektion sollte ihr recht sein. Die Gefahr von Komplikationen war gering, falls die Entzündung nicht schon so fortgeschritten war, daß sie nur noch amputieren konnte, und Gefahr für das Leben noch viel geringer. Sie war froh, daß kein Grund für die Befürchtung bestand, erneut einen Patienten zu verlieren.
    Sie folgte Gabriel über eine Anzahl von Wendeltreppen aufwärts. Oben blieb Gabriel nicht einen flüchtigen Moment lang stehen, ging auch nicht langsamer, aber Schlange verharrte, um sich in dem gewaltigen, eindrucksvollen Raum umzuschauen. Die hohe, rauchgefärbte Scheibe unter der schwungvollen Wölbung der Fensteröffnung im Dachgeschoß des Turmes bot einen aufregenden Ausblick über das gesamte, nun abendlich zwielichtige

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