Traumtrunken
ersten Moment glaubte, dass es auch den Onkel nicht gab.
Aber er war ja bei ihrer Hochzeit gewesen, Atze hatte ihn mit eigenen Augen gesehen.
„Michaela hing sehr an ihm. Er war das einzige Familienmitglied, das sie hatte, als ihre Großmutter gestorben war.
Natürlich konnte er nur selten kommen. Er wohnt in der Nähe von Hamburg und war dienstlich viel unterwegs.
Aber in ihrer Fantasie war er da. Und ab und zu besuchte er sie wirklich.“
„Das haben Sie zugelassen? Ich meine ....“ Atze suchte nach den richtigen Worten. „Ich will Ihnen keine Vorwürfe machen, ich möchte nur verstehen. War sie nicht in Therapie deshalb?“
Frau Gehlbach winkte ab. „Natürlich war sie das. Und es wurde später auch besser. Sie hatte eine innige Beziehung zu einem Mädchen hier im Heim, die dann leider gehen musste.
Was heißt leider. Für das Mädchen war es ein Segen. Aber Michaela ...“ Frau Gehlbach atmete tief.
„Sie sprechen von Ines?“, fragte Atze.
Frau Gehlbach nickte.
„Michaela hat mir davon erzählt.“
Frau Gehlbach rieb sich die Oberarme, als wenn sie fröstelte. Dann griff sie nach ihrer Halskette und legte sie auf ihrem Dekolleté zurecht.
„Es war für beide nicht einfach. Aber Michaela war diejenige, die hier zurückblieb. Die wieder allein zurückblieb.
Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Schuhberg. Den Kindern geht es gut. Wir versuchen, ihnen die Familie so weit es geht zu ersetzen. Aber eine gewisse Sehnsucht bleibt. Das wäre sonst auch nicht normal.“
„Die hätten doch beide Kinder nehmen können!“, sagte Atze wütend.
„Ja, das hätten sie. Aber die Praxis sieht leider oft anders aus.“
Das klang ernüchternd.
Atze kam wieder runter und las in Frau Gehlbachs Gesicht. Es war sicher nicht einfach, so einen Job zu machen. Und doch fand er keine brauchbaren Spuren. Sie war eine attraktive Endfünfzigerin und schien gelassen in sich selbst zu ruhen.
„Was raten Sie mir?“
Frau Gehlbach richtete sich im Stuhl auf. „Wenn Michaela sich so sehr ein Kind wünscht, dass sie in dieser Illusion lebt, was spricht dann eigentlich dagegen?“
„Sie meinen, sie wäre in der Lage dazu?“
„Michaela war immer verantwortungsbewusst.
Sie ist liebesfähig. Auch wenn ich mich manchmal frage, wie sie das nach all diesen Rückschlägen noch schafft.“
„Aber eine Beziehung kann doch nicht von einem Kind abhängig sein!“ Atze spürte, wie er rot wurde.
„Es gibt viele Frauen, die diese Sehnsucht spüren, da ist Michaela nicht die Einzige. Es ist normal, verstehen Sie?
Sich ein Kind zu wünschen und keines haben zu dürfen scheint mir fast genauso schlimm, als irgendwann eines verloren zu haben.“
Atze schluckte hörbar. Der Tag stand unter einem schlechten Stern. Er spürte das.
Nach dem Wochenende wuchs in ihm der Wunsch, gemeinsam mit Michaela ein Kind zu haben.
Entfaltete sich wie eine Papierblume, die man aufs Wasser legte. Atze konnte noch nicht sehen, was darauf geschrieben stand. Er spürte nur seine innere Zerrissenheit.
Wie sollte er sich da noch gegen Frau Gehlbachs Argumente wehren?
Ob sie überhaupt wusste, wovon sie sprach? Ob sie selbst Kinder hatte?
„Aber irgendwann ist das Kind groß und dann? Fangen dann nicht alle Probleme wieder von vorne an?“ Atze traute sich schon kaum mehr, dagegen zu sprechen.
„Sie müssen das Kind natürlich auch wollen!
Geben Sie Michaela, was sie sich wünscht und Sie werden sehen, es geht.
Sie liebt Sie. Sie wünscht sich nur ein Kind.
Und später?“ Frau Gehlbach lächelte gekünstelt. Dann stand sie auf. „Da haben Sie vielleicht Enkel!
Es ist besser, wenn Sie das alles erst mal verdauen. Sie können mich gern wieder anrufen.“
Atze reichte ihr zum Dank die Hand.
„Sie sind doch noch jung, Herr Schuhberg. Überlegen Sie sich's!“
***
Atze nahm die Tram. Unterwegs fielen ihm Frau Gehlbachs Worte ein. Michaelas Halluzinationen machten ihm Angst. Halluzinationen. Was anderes war es doch nicht!
Irgendwie bekam er den Gedanken nicht los, dass das doch nicht normal sein konnte. Aber was an Michaelas Leben war schon normal?
Als er ausstieg, hatte er die Sparkasse im Visier. Er wartete, bis die Ampel Grün zeigte und beeilte sich, über die Straße zu kommen. Dort stellte er sich an die Hauswand und kramte nach seinem Handy. Frau Gehlbach hatte da so etwas angedeutet. Er musste sie noch fragen, was aus dem Bär geworden war.
Sie ging sofort ran. „Herr Schuhberg, Sie nochmal!“
Atze sprach leise. Immer
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