Traumzeit
Mrs. Westbrook. Das wenige Geld, das wir bekommen, reicht gerade, um Medikamente und Lieferungen zu bezahlen. Ich habe keine Ahnung, wohin wir gehen sollen, wenn man uns zwingt, das hier aufzugeben.«
Sie kamen an einem gepflegten Friedhof vorbei, an einem Gewächshaus, in dem Nonnen im weißen Habit arbeiteten, an einem Gemüsegarten und an einem Hof mit Ziegen, Schafen und Hühnern. »Wir versuchen, uns selbst zu versorgen«, sagte Schwester Veronika. »Aber wir werden alle älter. Die jüngste Schwester ist fünfzig. Wir haben Schwierigkeiten, Nachwuchs zu bekommen, weil wir so arm sind.«
Sie standen vor der Treppe eines einstöckigen Holzgebäudes. Auf dem Schild über der Tür stand: KRANKENSTATION .
»Mrs. Westbrook«, fuhr Schwester Veronika fort, »in welchem Jahr waren Ihre Großeltern hier?«
»Zwischen 1830 und 1834 .«
»Und Sie sagen, Ihre Großeltern haben in Westaustralien mit Ureinwohnern zusammengelebt.«
»Möglicherweise sind sie sogar hier in der Nähe mit der Sippe durchgezogen, aber ich bin nicht sicher.«
Schwester Veronika blieb stehen und sah Joanna an. »Wenn sie zu dieser Zeit hier waren, müssen sie in Perth gewesen sein, als ich ebenfalls dort war. Ich bin als siebzehnjährige Novizin nach Australien gefahren. Ich und zwei andere Schwestern kamen mit den ersten Siedlern ins Land. Wir lebten drei Jahre in Perth. Dann zogen wir nach Osten, gründeten eine Farm und eine Schule für die Kinder der Siedler. Warten Sie, da fällt mir etwas ein …«
Joanna hielt den Atem an. Die Sonne versank hinter den Bäumen, und der ständige Lärm von den Goldfeldern schien plötzlich gedämpft zu klingen.
»Es war 1834 «, sagte Schwester Veronika nachdenklich. »Ich erinnere mich an das Jahr, denn ich hatte gerade meine letzten Gelübde abgelegt. Man brachte ein kleines Mädchen aus der Wüste, ein weißes Mädchen. Es war etwa vier Jahre alt und in einem schrecklichen Zustand. Körperlich fehlte ihm nichts. Man hatte es gut versorgt. Aber anfangs redete das Kind kein Wort, sondern weinte immer nur – es war völlig verängstigt. Aber später wollte es uns etwas sagen. Wir konnten jedoch nicht verstehen, was es uns sagen wollte, denn Mrs. Westbrook, das Verwirrende war, das Mädchen sprach nicht Englisch, sondern einen Eingeborenendialekt. Ich glaube mich zu erinnern, daß das Kind schreckliche Angst vor Hunden hatte, vor Dingos und vor Schlangen …«
Schwester Veronika fuhr nach kurzem Schweigen fort: »Die Behörden hatten uns das Mädchen übergeben. Wir versorgten das Kind, bis man es auf ein Schiff nach England bringen konnte – zu seinen Verwandten, wie man uns sagte.« Sie bemerkte Joannas wachsende Erregung. »Mrs. Westbrook, hat dieses Kind möglicherweise etwas mit Ihren Großeltern zu tun?«
Joanna nickte. »Es war ihre Tochter … meine Mutter.« Joanna konnte ihre Aufregung kaum noch unterdrücken. »Dann sind sie also hier in der Nähe gewesen«, murmelte sie, »sie sind diesen Weg gekommen. Wenn es so ist, kann Karra Karra nicht weit sein.«
»Was wollen Sie jetzt tun, Mrs. Westbrook?«
»Ich muß herausfinden, wohin sie gegangen sind, wo sie gelebt haben.«
»Weshalb? Ich bezweifle, daß Sie nach all den Jahren dort draußen im Busch überhaupt etwas finden.«
»Da draußen
ist
etwas, Schwester. Meine Mutter hat geglaubt, es wartet auf sie. In gewisser Weise habe ich jetzt das Gefühl, es wartet auf mich.«
Schwester Veronika sah ihre Besucherin mit ihren kleinen lebendigen Augen prüfend an. »Also ist es eine Pilgerreise?« sagte sie. »Ich dachte, ich hätte es gespürt, als wir uns die Hand gaben. Ich habe das starke Gefühl, Mrs. Westbrook, in unserer Begegnung liegt ein Sinn. Ja, ich habe den Eindruck, das Schicksal hat es so gewollt.« Sie sah Lisa an. »Das gilt auch für Ihre Tochter. Ich frage mich, ob Gott Sie aus einem bestimmten Grund hierher gebracht hat.«
»Irgend etwas hat mich hierher geführt«, sagte Joanna, »denn diese Reise dauert schon Jahre. Und ich mache sie nicht ganz freiwillig. Ich fühle mich dazu getrieben. Meiner Mutter erging es auch so.«
»Ich verstehe«, Schwester Veronika lächelte. »Auch ich fühlte mich vor vielen Jahren getrieben, hierher zu kommen. Ich stamme aus einer reichen Familie, Mrs. Westbrook. Und ich war, wenn ich das sagen darf, eine sehr hübsche junge Frau und hatte viele Verehrer. Aber ich wurde ›berufen‹. Mir blieb keine andere Wahl, als hierher zu kommen, um Gottes Güte und Liebe in diese
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