Traumzeit
mitgebracht hatte.
Es war inzwischen schon spät, und die Farm lag im Dunkeln. Ein leichter Frühlingsregen trommelte auf das Blechdach der Hütte. Joanna hatte die Reisekleider gewechselt, gebadet, ein frisches Nachthemd angezogen und die langen Haare gekämmt. Jetzt wollte sie sich den Dingen zuwenden, die sie auf den Tisch gelegt hatte, wo eine Petroleumlampe ihr warmes, freundliches Licht verbreitete.
Joanna schnürte das kleine Bündel auf, das ihr der Schiffssteward am Kai gegeben hatte, als er ihr Adam überließ und berichtete, man habe den Jungen in Adelaide an Bord gebracht. Joanna rechnete damit, vielleicht Schuhe zu finden oder Spielzeug von Adam. Aber in der kleinen Decke lagen eine in schwarzes Leder gebundene Bibel, ein Kamm aus Elfenbein und, am seltsamsten von allem, ein unbenutztes Geschirrtuch aus Devon, England. Joanna schlug die Bibel auf und sah auf der Seite ›Familienregister‹ vier Eintragungen. Die erste lautete: »Joe und Mary Westbrook sind heute, am 10 . September 1865 , in den heiligen Stand der Ehe getreten.« Darunter stand: »Adam Nathaniel Westbrook, geboren am 30 . Januar 1867 «, darunter: »Joseph Westbrook, gestorben am 12 . Juli 1867 an Wundbrand« und schließlich: »Mary Westbrook, gestorben im September 1871 an Lungenentzündung«.
Jemand hatte einen schmalen goldenen Ehering in ein Taschentuch gewickelt und in die Bibel gelegt.
Joanna blickte auf Adam, dessen geschlossene Augenlider unruhig zuckten, und dachte: Das ist alles, was ihm als Erinnerung an seine Mutter bleibt – ein Ring, ein paar Daten in einer Bibel und ein Geschirrtuch aus Devon.
Sie griff nach dem Tagebuch ihrer Mutter und hielt es lange in der Hand, bevor sie es aufschlug.
Sie empfand es als Trost, den vertrauten weichen Lederband in der Hand zu halten. Sie stellte sich vor, wie alle Höhen und Tiefen des Lebens ihrer Mutter in dieses Buch geflossen waren und es dadurch nun beinahe lebendig war. Das Tagebuch enthielt auch Joannas Leben, ihre Vergangenheit. Sie dachte wieder an die zurückliegenden Jahre, in denen sie so glücklich gewesen war, denn sie hatte als Kind in einer behüteten, verzauberten Welt gelebt. Für sie war ihre Mutter eine Märchenprinzessin gewesen, so zart und anmutig wie die weißen Pfauen auf dem makellos gepflegten Rasen vor der Residenz des Vizekönigs. Und sie hatte sich vorgestellt, daß ihr Vater, der Oberst, mit seinem großen weißen Tropenhelm, der schneidigen Uniform mit den blitzenden Messingknöpfen und den glänzenden Reitstiefeln die Befehlsgewalt über ganz Indien besaß. Er war tapfer und aufrichtig wie die Helden in den Märchen. Und für die junge Joanna war die Vorstellung noch schöner gewesen, daß er seine Frau über alles liebte.
Joanna war in einer Gesellschaftsschicht aufgewachsen, die Wert auf Höflichkeit im Reden und Handeln legte, in der es feste Regeln gab, an die sich jeder halten mußte, und wo man selbst zwischen Eheleuten auf Anstand und Schicklichkeit achtete. Aber die Liebe von Petronius Drury für seine Frau galt als einmalig. Oft hörte Joanna als Kind Bemerkungen wie: »Die glückliche Emily! Für Petronius gibt es nur sie … Er sieht nie eine andere Frau an … wenn nur mein Andrew auch so wäre.«
Und deshalb glaubte Joanna, hatte er nach Lady Emilys Tod nicht weiterleben können.
Joanna schlug das Tagebuch auf und las im Schein der Lampe.
Die Seiten über die ersten Ehejahre berichteten von einem aufregenden und schönen Leben mit Bällen in Palästen und Besuchen bei indischen Fürsten. Lady Emily hatte Rezepte für Kräuterheilmittel vermerkt und philosophische Gedanken dem Tagebuch anvertraut. Als Vierundzwanzigjährige hatte sie geschrieben: »Wenn man etwas tun muß, dann kann man es auch.« Mit dreißig: »Optimismus macht stark.« Sie äußerte sich auch über die Mode: »Die englischen Damen tragen jetzt Saris über den Reifröcken«, und über Etikette: »Mir tat die junge Braut leid, die unpassenderweise die Ehefrau eines höheren Offiziers ansprach.« Beinahe neun Jahre hatte Lady Emily Tagebuch geführt, als sich eines Tages – vor dreizehn Jahren – der Ton ihrer Eintragungen plötzlich veränderte.
An Joannas sechstem Geburtstag schrieb Lady Emily: »Heute ist Joanna sechs geworden. Es war eine schöne Geburtstagsfeier mit zwölf Kindern und den Eltern.« Und dann berichtete sie zum ersten Mal von Alpträumen.
»Die Alpträume setzen wieder ein«, schrieb Lady Emily auf der nächsten Seite. »Ich habe
Weitere Kostenlose Bücher