Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traumzeit

Traumzeit

Titel: Traumzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
Vom Netzwerk:
Fliegen. Es war ein ruhiger, heißer und verschlafener Dezembermorgen. Die Erde war von der glühenden Sommersonne ausgetrocknet. Sarah blickte zum Himmel hinauf und konzentrierte sich, denn sie wollte versuchen herauszufinden, was die Veränderung ausgelöst hatte. Sie richtete den Blick auf die Weiden, die sich weit bis zum östlichen Horizont erstreckten. Dann dachte sie: Es
geschieht
etwas.
    »Sarah?« sagte Adam.
    Sie sah ihn an. Seine Stimme klang überlaut. Etwas war nicht in Ordnung, das spürte sie deutlich.
    »Sarah«, wiederholte Adam und zog an ihrem Rock.
    Sie schloß die Augen und konzentrierte sich ganz auf sich selbst.
    Sarah erlebte nicht zum ersten Mal, daß sie in ihrem Innern Warnungen hörte. Im Missionsdorf hatte die alte Deereeree, eine der alten Frauen, Sarah erklärt, das liege daran, daß sie einmal wie ihre Mutter sein würde, die das besondere Wissen gehabt hatte.
    Aber Sarahs ›Wissen‹ war oft enttäuschend unvollständig, ungenau und unfaßbar. Die alte Deereeree hatte gesagt, das sei darauf zurückzuführen, daß man Sarahs Initiation unterbrochen habe. Hätten die alten Frauen sie richtig einweihen dürfen, wäre ihr besonderes Wissen klarer und genauer, so wie es bei ihrer Mutter der Fall gewesen war. Und deshalb saß Sarah nun im Schatten der Veranda, während der Hof und die Gebäude in einem seltsamen Licht lagen, und sie wußte nicht, was sie spürte. Sie wußte nur, es war sehr wichtig und es hatte etwas mit Joanna zu tun.
    Sarah mußte an die letzte Nacht denken. Ein Schrei hatte sie plötzlich geweckt. Sie blickte durch das Fenster und sah, daß Joanna aufrecht im Bett saß und zitterte. Sarah hatte dann beobachtet, wie Joanna aufgesprungen und in der Dunkelheit unruhig hin und her gelaufen war, als versuche sie, einen bösen Gedanken zu vertreiben. Sie hatte Angst in ihrem Gesicht gesehen. Vielleicht hatte sie einen bösen Traum gehabt. Aber wovon?
    »Adam«, sagte Sarah plötzlich entschlossen, stand auf und nahm seine Hand, »komm, wir gehen spazieren.«
    Während sie in Richtung der Bäume am Fluß gingen, versuchte sie, ihre Befürchtung richtig einzuschätzen. War es wirklich ein ›Wissen‹ oder war es nur ihre Sorge um Joanna, die wieder einmal zu den Felsen gegangen war?
    Es gab so vieles, was Sarah nicht verstand. Wenn sie doch nur mit der alten Deereeree reden könnte. Die alte Frau in der Mission hatte angefangen, Sarah zu unterweisen. Aber Reverend Simms hatte Sarah verboten, die alten Frauen zu besuchen. Die alte Deereeree wußte alles. Sie würde Sarah sagen können, auf welche Weise und warum Joanna sich von anderen weißen Frauen unterschied. Sarah hatte von Anfang an, schon am Abend ihres Eintreffens auf Merinda, gewußt, daß Joanna anders war. Und Sarah hatte sie mit dem Buch gesehen, in dem Joanna jeden Abend las und in das sie schrieb.
    Konnte Joanna eine Hüterin der Gesänge sein? War ihre Mutter eine Hüterin der Gesänge gewesen? Sarah wußte, das Buch, das Joanna ›Tagebuch‹ nannte, enthielt die Gesänge von Joannas Mutter. Joanna las sie Tag für Tag, und Sarah glaubte, sie tat es, um das Träumen ihrer Mutter zu bewahren. Das hätte auch Sarah getan, wenn ihre Einweihung beendet worden wäre. Dann würde sie das Träumen ihrer Mutter singen, und sie würde eigene Gesänge hinzufügen, wie Joanna es tat, wenn sie ihre Gesänge dem Buch anvertraute, damit sie einmal ihren Töchtern weitergegeben werden konnten. Natürlich sprachen Sarah und Joanna nie darüber. Joanna hatte nie gesagt, das Buch sei das Träumen ihrer Mutter. Aber Sarah wußte es.
    Sie überlegte, ob Joanna auch die Kräfte ihrer Mutter geerbt hatte. Joanna schien zu wissen, welche Pflanzen heilten und welche todbringend waren. Sie konnte auch den Puls eines Menschen fühlen und sagen, ob er ein starkes oder schwaches Herz hatte. Joanna war mit Sarah zum Fluß gegangen und hatte ihr Kräuter und Blumen gezeigt, die dort wuchsen und mit denen man Krankheiten vertreiben konnte. War das nicht eine Kraft, dachte Sarah, eine ganz besondere Kraft?
    Sarah wußte, ihre Mutter hatte jene besonderen Kräfte einer Hüterin der Gesänge gehabt, und oft glaubte Sarah zu spüren, daß diese auch in ihr lagen. Bislang hörte sie allerdings immer nur ein Raunen; es war ein Gefühl, als streife sie etwas sanft in der Dunkelheit. Dann fragte sie sich, ob ihre Kräfte sich möglicherweise nie ganz entfalten würden, weil sie nicht richtig eingeweiht worden war. Sie sollten sich eigentlich mit der

Weitere Kostenlose Bücher