Traveblut
während der gesamten Fahrt. Der frostige Winter hatte den Straßen Lübecks den Rest gegeben. Andresen hatte es aufgegeben, den unzähligen Schlaglöchern, die sich wie umgedrehte Maulwurfshügel über die Stadt verteilten, auszuweichen. Schlimmer noch waren die halbherzigen Versuche, die Löcher mit Teer zu stopfen, der sich bereits bei schwächeren Regengüssen auflöste und statt auf der Straße am Unterboden seines Volvo klebte.
Ida-Maries Handy klingelte. Sie nahm ab und hörte dem Anrufer konzentriert zu. Nach einer knappen Minute legte sie wieder auf und wandte sich Andresen zu. »Du musst die Gespräche heute Nachmittag allein führen«, sagte sie. »Ich habe um zwei Uhr den Termin mit Oliver Rehm im Uniklinikum. Die Ärzte haben grünes Licht gegeben.«
Andresen nickte enttäuscht. »Wollten wir nicht noch reden?«, fragte er nach einer Weile des Schweigens.
»Eigentlich schon«, antwortete Ida-Marie vorsichtig. »Aber vielleicht ist das jetzt doch nicht der richtige Zeitpunkt. Kann ich dich heute Abend anrufen?«
»Ich kann auch vorbeikommen.«
»Keine gute Idee. Ich melde mich, okay?«
Andresen antwortete nicht. Er ahnte, was ihre kühle Reaktion zu bedeuten hatte. Die Wut auf sich selbst kam zurück. Wieso nur hatte er sich darauf eingelassen, mit ihr ins Bett zu springen? Er war es ja sogar gewesen, der das Ganze forciert hatte. Und jetzt servierte sie ihn eiskalt ab.
Zurück im Präsidium steuerte er ohne Umwege Julias Büro an. Er verzichtete darauf, anzuklopfen, und öffnete die Tür. Julia saß hinter ihrem Schreibtisch und telefonierte. Andresen wartete, bis sie aufgelegt hatte.
»Also, was hast du herausgefunden?«
Aus einer Schreibtischschublade zog sie Brigitte Jochimsens Tagebuch und legte es auf den Tisch. Sie blätterte bis zu einer Stelle, die mit einem gelben Zettel markiert war.
»Hier«, sagte sie ruhig. »Lies die nächsten beiden Seiten. Brigitte Jochimsen hat die Einträge vor etwa zehn Jahren gemacht. Ich werde nicht schlau daraus, aber ich bin mir sicher, dass sie etwas zu bedeuten haben.« Julia reichte ihm das Buch und lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück.
Andresen zog sich den Besucherstuhl heran und nahm Platz. Dann richtete er seinen Blick auf das aufgeschlagene Tagebuch.
14. August
Dieser kleine Bengel hat sich heute wieder krankschreiben lassen. Das muss endlich aufhören. Ich werde mit ihr sprechen müssen.
Ansonsten verlief die Stunde ohne Zwischenfälle. Meine Vierte hat erstaunliche Fortschritte gemacht.
Abends waren wir bei Bernd und Ulrike zum Essen eingeladen. Es gab Fisch. Dabei weiß sie doch ganz genau, dass ich keinen Fisch mag. Insgesamt war der Abend aber ganz erträglich.
16. August
Was soll ich tun? Es muss dringend etwas geschehen. So kann es nicht weitergehen.
Es ist so kräftezehrend mit Günther, es wird von Tag zu Tag schlimmer.
21. August
Habe die beiden heute erwischt. Ich kann das nicht länger mit ansehen.
Andresen blätterte stirnrunzelnd um.
28. August
Es gibt angeblich jemanden, der einen Verdacht hat. Ich bin mir aber sicher, dass sie keine Details kennt. Trotzdem sollte ich ihr den Wind aus den Segeln nehmen.
Vielleicht ist es besser, wenn ich nicht länger schweige. Fühle mich immer unwohler in meiner Haut. Auch zu Hause halte ich es nicht mehr aus. Günther erkennt mich kaum noch.
24. September
Heute waren Bernd und Ulrike zum Kaffee da. Günther lag im Bett. Es war ein schrecklicher Nachmittag.
»Das ist alles«, durchbrach Julia die Stille. »Mehr ist nicht von Interesse. Nur die zwei Seiten. Die restlichen Einträge handeln ausschließlich von ihrem Mann und seiner Erkrankung.«
Andresen schlug das Tagebuch zu und blickte Julia nachdenklich an.
»Was hältst du davon?«
»Irgendetwas ist an dieser Schule vorgefallen und kommt zehn Jahre später ans Licht«, antwortete Andresen. »Vielleicht sind diese Notizen der Durchbruch. Mach bitte Kopien davon. Wir müssen uns über jedes einzelne Wort Gedanken machen, und wir müssen in Erfahrung bringen, wen Brigitte Jochimsen gemeint hat.«
Andresen wartete auf die Kopien, ehe er zurück in sein Büro ging. Er schloss die Tür und setzte sich an den Schreibtisch. Die Müdigkeit brach über ihn herein wie Dunkelheit an einem kalten Winternachmittag. Er hatte in der letzten Nacht kaum ein Auge zugemacht. Als wäre das nicht genug, lastete sein schlechtes Gewissen schwer auf ihm. Wie sollte er Wiebke jemals wieder unter die Augen treten?
Er schob
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