Traveler - das Finale
hielt seine Steintasse zwischen beiden Händen und starrte in den Tee. Das sanfte Pfeifen des Windes, der um die Türme herumfuhr, erinnerte Gabriel an den tiefsten Ton einer Holzflöte.
»Während meines Aufenthaltes hier habe ich mich bemüht, diese Welt anhand einer Theorie zu begreifen, die ich im Physikstudium kennen gelernt habe. Ich denke, die Gebäude stellen eine Art Lektion für jeden Besucher dar, der sich in diese Welt verirrt. Die ersten zwei bilden ein Universum ab, in dem unser Weg vorgeschrieben ist. Wir haben keine Wahlfreiheit, und alle Menschen müssen in dieselbe Richtung gehen. Ein allmächtiger Architekt hat diese Häuser errichtet, und wir sind wie Kinder, die gezwungen werden, in einer festgelegten Richtung durch alle Zimmer zu trotten.«
»Und das dritte Gebäude?«
»Ein Modell der chaotischen Natur unserer Realität. Man kann diese Treppe wählen oder eine andere, man kann sich verirren oder rückwärtsgehen.«
»Du klingst wie Maya, wenn sie über ihren Zufallszahlengenerator spricht.«
»Die Quantenphysik lehrt uns, dass man die Position subatomarer
Partikel nicht bestimmen kann. Ein Elektron oder Lichtphoton hält sich niemals an einem bestimmten Ort auf. Es verharrt in einer Art Superposition, die alle möglichen Aufenthaltsorte zugleich einschließt. Erst im Moment der Beobachtung stürzen diese vielen Möglichkeiten zu einer Gegebenheit zusammen. Folglich sind alle Möglichkeiten denkbar, und die Zahl der Wege ist unbeschränkt. Wir leben nicht in einem deterministischen Universum.«
»Okay. Schön. Unser Universum ist von Chaos und Zufall geprägt. Aber das zu wissen hilft mir auch nicht weiter.«
»Gabriel, ich muss dir widersprechen. Religionen und Diktaturen, die dem deterministischen Modell anhängen, haben Tod und Verderben über Millionen von Menschen gebracht. Das Seltsame ist, dass die Gründer aller Weltreligionen an den freien Willen geglaubt und ihr Leben bewusst gestaltet haben. Moses beschloss, sein Volk aus Ägypten zu führen, Mohammed beschloss, in Mekka zu predigen, und Buddha setzte sich unter die Pappelfeige. Für mich liegt der bedeutendste Aspekt der Passionsgeschichte darin, dass Jesus sich bewusst dafür entschieden hat, nach Jerusalem zu gehen und gekreuzigt zu werden. Die deterministische Weltsicht wurde den Religionen erst nach dem Tod ihrer Gründer aufgedrückt. Wenn die Leute meinen, ein bestimmter Glaube sei der einzig richtige und wahre, führt das zu Hass und Intoleranz. Dann heißt es nicht länger: ›Das Licht lebt in dir, entscheide dich für das Licht‹, sondern: ›Füge dich unserer Weltsicht, sonst bringen wir dich um.‹«
Stirnrunzelnd schüttelte Gabriel den Kopf. »So macht es die Tabula.«
»Viele Regierungen und Parteien haben sich ihrer Sichtweise angeschlossen. Die beiden gescheiterten Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts – Kommunismus und Faschismus – standen für das deterministische Geschichtsmodell. Angeblich handelte es sich beim Kommunismus um eine ›wissenschaftliche‹
Theorie, die den unweigerlichen Zusammenbruch der kapitalistischen Systeme vorhersagte. Und Adolf Hitler glaubte, es sei der so genannten ›Herrenrasse‹ bestimmt, über die Welt zu herrschen.«
»Sie sind gescheitert, dennoch bekämpfen die Menschen sich auch weiterhin.«
»Die Menschen halten sich für machtlos, weil sie Angst haben. Sie sehnen sich nach Zauberformeln und Passwörtern. Es erfordert Mut, die Möglichkeiten der freien Willensentscheidung zu akzeptieren und auch die negativen Konsequenzen zu tragen. Aber durch Kameras und Überwachungsprogramme bekommen wir unsere Probleme nicht in den Griff.«
»Die Tabula würden sagen, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist und wir Sicherheitsmaßnahmen brauchen, um uns zu schützen.«
»Ich will gar nicht abstreiten, dass es in der Vierten Sphäre Stolz und Wut und Gier gibt. Wir können diese schlechten Eigenschaften sogar in unserem eigenen Herzen entdecken, und wir sehen sie täglich in anderen Menschen. Aber das Panopticon setzt automatisch voraus, dass jeder schuldig ist. Es wird gegen die Angst nichts ausrichten. Im Gegenteil, es wird die Menschen noch misstrauischer und verängstigter machen, weil es die Verbindung zwischen den Wesen ignoriert.«
»Sprichst du von spirituellen Verbindungen?«
»Ich hüte mich meistens davor, das Wort Spiritualität zu gebrauchen. Es ist so vage und schleierhaft. Ich will vielmehr sagen, dass wir tatsächlich miteinander verbunden sind und dass
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