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Treibhaus der Träume

Treibhaus der Träume

Titel: Treibhaus der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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weggefahren.«
    »Weggefahren? Wohin?«
    »Nach München.«
    »Danke.« Marianne Steegert schob die Durchreiche zu. »Ilse ist in München«, sagte sie etwas ratlos. »Davon war gar nicht die Rede. Wir wollten erst nächste Woche gemeinsam dorthin. Ob … ob sie etwas gemerkt hat … gestern …«
    »Ausgeschlossen!« Dr. Lorentzen goß sich Kaffee ein und schnitt ein knackfrisches Brötchen auf. Für ihn galt nicht die strenge Diät der Farm: Knäckebrot, Vollkornbrot, auf keinen Fall weißes Gebäck. »Und wenn … dann wäre Ilse erst recht hier. Du machst dir unnötige Sorgen, Liebste.«
    Es sollte sich bald herausstellen, daß diese Ansicht falsch war.
    Dino Valenti, der Geigenvirtuose, dem beim Adagio-Spiel immer das linke Augenlid herunterhing, was ihm das Aussehen eines müden Hundes verlieh, war zur Operation vorbereitet. Die ganze Station war glücklich, als er endlich ruhig und fast schon im Dämmerschlaf auf dem fahrbaren Bett im Vorbereitungszimmer lag.
    »Künstler sind Halbverrückte!« sagte Oberschwester Ottilie aus reicher Erfahrung. »Immer wenn wir einen Künstler operieren wollten, gab es Komplikationen. Vor, während und nach der Operation. Künstler sind eine Sorte Mensch für sich; ihre Nerven liegen bloß.«
    Nicht anders war es bei Dino Valenti.
    Die Wartezeit bis zur Operation – und das waren vier Tage – hatte er damit zugebracht, in seinem Zimmer Fingerübungen auf der Geige zu machen. Ein großer Geiger muß das, jeden Tag mindestens fünf Stunden. Tonleitern hinauf und hinunter, Triller und Übergänge, Stakkatos und Bögen. So schön es auch klingt, wenn ein Virtuose wie Valenti im Konzertsaal Paganini, Beethoven oder Mozart spielt, so schrecklich hört es sich an, wenn er übt. Die Zimmerinsassen links und rechts neben ihm beschwerten sich nach dem ersten Fünfstundentag von Tonleitern bei Dicki, bei der Stationsschwester und schließlich bei Dr. Lorentzen selbst.
    »Zugegeben, er ist weltberühmt«, sagte ein bekannter Architekt, der sich seine großen Nasenflügel verkleinern lassen wollte. »Aber wenn er wenigstens eine Melodie spielte. Immer nur Triller, das hält keiner aus! Ich komme mir schon vor wie ein Buchfink im Frühling. Trilili … trilala … trililili …«
    »Fünf Stunden sind etwas viel«, sagte der Nachbar zur Rechten von Valenti bei einer Nachuntersuchung zu Dr. Lorentzen. Er war Politiker und ließ sich seine Kummerfalten auf der Stirn wegoperieren, denn ein Politiker soll optimistisch aussehen und nicht wie ein Mensch, der gleich vor Kummer zu weinen beginnt. »Ich bin es ja gewöhnt, im Bundestag stundenlang zu gähnen … aber eine leiernde menschliche Stimme ist Wohlklang gegen die Tonleitern auf einer einsamen Geige.«
    Dino Valenti bekam ein anderes Zimmer. Am Ende des Ganges, über dem ›Grafen‹. Dort saß er auf dem Balkon und fidelte vergnügt. Am dritten Tag standen neun hübsche Frauen am Zaun, der die Schönheitsfarm von der Klinik trennte, und sahen zu dem Balkon hinauf. Frau Nitze hatte wie immer die Führung übernommen. Die neun Damen zeigten sich in knappen Bikinis und kicherten wie junge Mädchen.
    Dino Valenti winkte ihnen zu, setzte seine Geige ans Kinn und begann die Toselli-Serenade. Doch dabei trat er zurück unter den Sonnenschirm. Er wußte: Noch vier Takte, und das linke Augenlid fiel wieder herunter. Es war deprimierend. Wenn das Gefühl einsetzte, rutschte das Lid weg. Bei Toselli, bei Paganini, bei Haydn und erst recht beim Adagio von Bruch.
    Der ›Graf‹ unter Dino Valenti, im Schatten seines großen Schirmes, lauschte genußvoll auf das Geigenspiel. Er hatte Valenti noch vor drei Monaten in London begrüßt. Nun wohnten sie zusammen unter einem Dach, getrennt durch eine Etagendecke. Wie klein die Welt ist …
    Am Tag vor der Operation zeigte es sich, daß Valentis Nerven bloß lagen, wie es Oberschwester Ottilie nannte. Er übte nicht, und genau das rief im Hause Unruhe hervor und führte zu Anfragen bei Dicki, ob Herr Valenti etwa krank sei. Er rannte im Zimmer herum, rang die Hände, nahm seine Geige ans Kinn, aber er spielte nur stumm vor dem Spiegel und betrachtete dabei sein hängendes Augenlid. Dann schwitzte er, es war kalter Schweiß, rang nach Atem und trank Unmassen von Sprudelwasser. Bevor Schwester Frieda mit der ersten Injektion ins Zimmer kam, verfluchte er die Natur, die ihn mit einem solchen Lid ausgestattet hatte, hockte sich aufs Bett und weinte wie ein kleiner Junge.
    Er hatte Angst. Hundsgemeine Angst.

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