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Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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doch die Böschung gegenüber war steiler und schlüpfriger, und das Motorrad hatte mehr Platz zum Manövrieren. Er hechtete nach dem hinteren Kotflügel und bekam die Rückleuchte zu fassen, doch sie brach ab, und die Maschine zog einen, dann fünf, dann zehn Meter davon. Auf die Knie gestützt, blickte Arkadi dem davonbrausenden Dieb nach. Prustend wie ein Wal stieß Martschenko zu ihm.
    Der Hang war ein gelber Hügel, den die Skelette abgestorbener Bäume überragten. Der Motorradfahrer fuhr bis zu den Bäumen, hielt an und wandte sich um. Martschenko zog seine Pistole, eine Walther PP, und legte auf ihn an. Aus dieser Entfernung hätte er ein wahrer Meisterschütze sein müssen, dachte Arkadi. Die Waffe wackelte in der Hand des keuchenden Hauptmanns. Der Motorradfahrer rührte sich nicht.
    Schließlich steckte Martschenko die Pistole ins Holster zurück. »Wir sind über der Grenze. Der Bach ist die Grenze. Wir sind in Weißrussland. Ich kann im Ausland nicht auf Leute schießen. Machen Sie Ihre Kleidung sauber. Der Weizen ist heiß. Hier ist alles heiß.«
    Pferdebremsen umschwirrten die beiden Männer, als sie zum Wagen zurückstapften. Für heute hatten sie sich genug blamiert, dachte Arkadi. Aus reiner Neugier schaltete er sein Dosimeter ein, als sie durch den Bach wateten. Er schaltete es sofort wieder ab, als er das wütende Ticken vernahm.
    »Können Sie mich nach Tschernobyl zurückbringen?«, fragte Arkadi.
    Der Hauptmann rutschte im Schlamm aus, rappelte sich auf und brüllte: »Tschornobyl! Auf Ukrainisch heißt es Tschornobyl.«
    Arkadis Zimmer in Tschernobyl befand sich in einem Wohnheim am Rand eines Parkplatzes. Es besaß ein Bett und eine Steppdecke, einen mit Zigarettenbrandlöchern verunzierten Schreibtisch, eine trübe Funzel von Lampe und einen Stapel Akten.
    Die Untersuchungskommission aus Moskau hatte hier nicht nur ihre Zeit vergeudet, sondern nach einer möglichen Verbindung zwischen Timofejew, Iwanow und Tschernobyl gesucht. Immerhin hatten die beiden Männer vor ihrem Wechsel in die Wirtschaft als Physiker gearbeitet. Sie waren im selben Moskauer Stadtteil aufgewachsen und gewissermaßen seit Kindesbeinen befreundet gewesen. Iwanow war der geborene Führer, Timofejew sein treuer Gefolgsmann, und beide waren wissenschaftlich so begabt, dass sie auf Fachschulen und später aufs Institut für extrem hohe Temperaturen geschickt wurden, wo sie der Direktor, Akademiemitglied Gerasimow, persönlich unter seine Fittiche nahm. Die Bedienung eines Atomkraftwerks hätte sie ebenso unterfordert wie das Steuern eines Busses. So weit die Kommission hatte feststellen können, gab es in Tschernobyl weder Freunde noch Verwandte von Iwanow oder Timofejew. Keiner ihrer Lehrer oder Kommilitonen stammte aus der Region. Sie hatten Tschernobyl vor dem Unfall nie besucht. Es bestand nicht die geringste Verbindung zu diesem Ort.
    Wer dann hatte eine Verbindung zu Tschernobyl?
    Jedenfalls nicht Oberst Georgi Jowanowitsch Oschogin, der Sicherheitschef von NoviRus. Seine Akte war voll gestopft mit Belobigungen aus seiner Zeit als »Meister des Sports« und mit erstklassigen Zeugnissen, die sich auf seine zweite Laufbahn als »selbstloser Agent des Komitees für Staatssicherheit« bezogen. Die Verfasser des Berichts führten nicht im Einzelnen aus, inwieweit diese Selbstlosigkeit über seinen Einsatz »für die Völkerfreundschaft bei Sportwettkämpfen in der Türkei, Algerien und Frankreich« hinausgegangen war. Alter: 52. Ehefrau: Sonja Andriwna Oschogin. Kinder: George, 14, und Vanessa, 12. Arkadi hatte der Untersuchungskommission nicht angehört. Hätte er ihr angehört, so wäre er möglicherweise dem Gedanken nachgegangen, dass der Sicherheitschef von NoviRus als Einziger Zugang zu allen kontaminierten Wohnungen und allen Codes gehabt hatte. Doch der Oberst hatte sich freiwillig zu Vernehmungen nach Verabreichung eines Wahrheitsserums und unter Hypnose bereit erklärt und beide Tests bestanden. Seitdem machten die Ermittler einen großen Bogen um ihn.
    Unschlüssig waren sich die Ermittler, was sie mit Rina Schewtschenko anfangen sollten. Pascha Iwanow hatte seiner Geliebten ausgezeichnete, aber gleichwohl gefälschte Papiere besorgt: Geburtsurkunde, Schulzeugnisse, Gewerkschaftsausweis und Aufenthaltserlaubnis. Zudem ging aus den Polizeiakten zweifelsfrei hervor, dass Rina von einer Kolchose bei Sankt Petersburg stammte. Sie war als Minderjährige weggelaufen und illegal nach Moskau gezogen, wo sie sich als

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