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Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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einfallen, dass Sie genau an derselben Stelle zufällig einem bestimmten Mann begegnet sind.«
    »Ach ja?«
    »Oder dass ein Mann zu Ihnen kam, der einen Elch tot gefahren hatte und von Ihnen wissen wollte, ob er ihn bedenkenlos essen könne - da der Elche nun mal tot sei, wäre es doch schade, sein Fleisch verkommen zu lassen.«
    »Meinen Sie? Nach einer Kollision mit einem Elch wäre von einem Wagen nicht mehr viel übrig.«
    »Ich spiele nur die Möglichkeiten durch.«
    »Außerdem würde ich grundsätzlich davon abraten, in diese Wälder zu gehen.«
    Eine Wand aus rostroten Kiefern erstreckte sich von links nach rechts, so weit das Auge reichte. An den abgestorbenen Ästen hingen keine Zapfen, und in den Kronen lebten keine Eichhörnchen. Die Bäume standen starr wie Telegrafenmasten.
    »Ach, armer Yorick, ich kannte ihn.« Arkadi konnte sich auf jedem Mast einen Totenkopf vorstellen. Etwas Geisterhaftes vor dem Wald flatterte wie ein Taschentuch und flog davon.
    »Eine weiße Schwalbe«, sagte Alex. »Außerhalb von Tschernobyl sieht man davon nicht viele.«
    »Kommen Wilderer hierher?«
    »Nein, so dumm sind sie nicht.«
    »Und wir?«
    »Wir auch nicht, aber die Versuchung ist zu groß, deshalb tun wir es trotzdem. Sie sollten das mal im Winter sehen, wenn Schnee liegt und die Bäume wie Blut leuchten. Die Leute sprechen vom roten Wald oder Zauberwald. Klingt nach Walt Disney, nicht? Und keine Sorge, wie die Behörden immer sagen: >Geeignete Maßnahmen werden ergriffen, die Situation ist unter Kontrolle.<«
    Sie fuhren am Rand des roten Waldes entlang bis zu einem Areal, das mit jungen Kiefern bepflanzt war. Alex hüpfte aus dem Wagen und kam mit einem Zweig zurück.
    »Sehen Sie, wie verkümmert und deformiert die Spitze ist? Daraus wird nie ein Baum, nur ein Strauch. Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Der Staat freut sich über unsere neuen Kiefern.« Alex breitete die Arme aus und verkündete: »In zweihundertfünfzig Jahren ist hier alles wieder sauber. Abgesehen vom Plutonium. Das dauert fünfundzwanzigtausend Jahre.«
    »Dann besteht ja noch Hoffnung.«
    »Das will ich meinen.«
    Gleichwohl stellte Arkadi fest, dass er wieder freier atmete, als die roten Kiefern einem Mischwald aus Eschen und Birken wichen. Am Fuß eines Baums bog Alex das hohe Gras auseinander, so dass ein Tunnel sichtbar wurde. Er führte zu einem Käfig, in dem es von Mäusen wimmelte. Feldmäusen, wie Arkadi vermutete.
    »Clethrionomys glareolus«, erklärte Alex. »Rötelmäuse oder besser, Superrötelmäuse. Die Mutationsrate bei unseren kleinen Freunden hier hat sich um den Faktor dreißig beschleunigt. Vielleicht lösen sie nächstes Jahr Integralrechnungen. Ein Grund für die hohe Mutationsrate bei Rötelmäusen ist ihre rasche Vermehrung, denn Strahlung wirkt sich auf den wachsenden Organismus viel stärker aus als auf den ausgewachsenen. Ein Kokon wird von Strahlung affiziert, ein Schmetterling nicht. Stellt sich also die Frage: Wie wirkt sich Strahlung auf diesen individuellen Zeitgenossen aus?« Er öffnete den Käfig und zog eine Rötelmaus am Schwanz heraus. »Die Antwort lautet, dass er keine Angst vor Radionukliden hat. Er hat Angst vor Eulen, Füchsen und Bussarden. Er hat nur zwei Dinge im Kopf: Futter und ein warmes Nest. Aus seiner Sicht ist Strahlung der mit Abstand unwichtigste Überlebensfaktor, und er hat Recht.«
    »Und was ist mit Ihnen?«, fragte Arkadi. »Was ist für Sie der wichtigste Überlebensfaktor?«
    »Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Mein Vater war Physiker. Er hat in einer dieser geheimen Anlagen im Ural gearbeitet, wo abgebrannte Brennelemente gelagert wurden. Solche Elemente sind noch hochradioaktiv. Durch Schlamperei kam es zu einer Explosion. Es war keine Atomexplosion, dennoch wurde viel Radioaktivität freigesetzt. Alles blieb geheim, selbst die schwierigen Aufräumarbeiten, die sehr rasch durchgeführt wurden. Tausende von Soldaten, Feuerwehrleuten und Technikern kämpften sich durch die Trümmer, darunter auch die Physiker unter Leitung meines Vaters. Nach dem Unfall hier rief ich meinen Vater an und sagte: >Papa, bitte, sag mir die Wahrheit. Was ist aus deinen Kollegen nach dem Unfall im Ural geworden?< Mein Vater brauchte einen Moment, ehe er antwortete. >Sie sind alle gestorben<, sagte er, >einer wie der andere. Am Wodka.<«
    »Und deshalb trinken und rauchen Sie und fahren durch radioaktiv verseuchte Wälder?«
    Alex setzte die Maus in den Käfig zurück und

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