Treue Genossen
tauschte den vollen Käfig gegen einen leeren aus. »Aus statistischer Sicht muss ich zugeben, dass keine dieser Beschäftigungen der Gesundheit zuträglich ist. Aber aus individueller Sicht hat Statistik gar nichts zu bedeuten. Ich persönlich werde wahrscheinlich irgendeiner Art von Bussard zum Opfer fallen. Und Sie sind mir, vermute ich, ziemlich ähnlich, Renko. Ich glaube, auch Sie warten auf Ihren Bussard.«
»Oder Igel.«
»Nein, glauben Sie mir, auf einen Bussard, ganz bestimmt. Wir gehen zu Fuß weiter.«
Alex trug das Gewehr und Arkadi eine Lebendfalle mit Grünfutter als Köder. Mit jedem Schritt veränderte sich der Wald. Die verkümmerten Bäume wichen größeren, robusteren Birken und Eichen, in deren Halbschatten Vögel zwitscherten.
»Sind Sie Pascha Iwanow oder Nikolai Timofejew jemals begegnet?«, fragte Arkadi.
»Hören Sie, Renko, manche Leute vergessen ihre Probleme, wenn sie in den Wald gehen; sie halten Zwiesprache mit der Natur. Nein, ich bin keinem der beiden begegnet.«
»Sie waren Physiker. Und Sie waren am Institut für extrem hohe Temperaturen, genau wie die beiden.«
»Aber später, die beiden waren älter. Warum reiten Sie denn so auf der Physik herum?«
»Dieser Fall ist interessanter als ein Familiendrama mit blutigem Ausgang. Cäsiumchlorid ist kein Tranchiermesser.«
»Cäsiumchlorid können Sie in vielen Labors bekommen. In Anbetracht der Wirtschaftsmisere ließe sich wohl ein Wissenschaftler finden, der für Terroristen oder Mörder eine Sonderration abzweigt. Es werden doch auch Sprengköpfe gestohlen, oder nicht?«
»Wären zum Transport von Cäsiumchlorid nicht Fachkenntnisse erforderlich?«
»Jeder passable Techniker könnte das. Das Kraftwerk beschäftigt noch hunderte Techniker für Wartungsarbeiten, die können Sie gar nicht alle befragen.«
»Angenommen, die Person, die in Moskau mit Cäsium hantiert hat, ist dieselbe, die hier Timofejew umgebracht hat. Würde das den Kreis nicht einengen?«
»Auf die erwähnte Anzahl von Technikern.«
»Nicht unbedingt. Die Techniker wohnen eine Stunde entfernt. Sie fahren mit dem Zug ins Kraftwerk und nach der Schicht wieder direkt nach Hause. Sie treiben sich nicht in der Zone herum. Nein, die Person, die Timofejew die Kehle durchtrennt hat, arbeitet beim Sicherheitspersonal, oder sie ist >Selbstsiedler< oder Wilderer.«
»Oder ein in der Zone lebender Wissenschaftler?«, erkundigte sich Alex.
»Auch das wäre möglich.« Davon gab es nicht viele, dachte Arkadi. In Tschernobyl war für Forscher kein Ruhm zu ernten. Hier wurde nur aufgeräumt und beobachtet.
»Mit Cäsium jemanden umbringen oder in den Wahnsinn treiben ist eine komplizierte Methode.«
»Da stimme ich Ihnen zu«, erwiderte Arkadi. »Und kaum der Mühe wert, wenn Sie nicht eine Botschaft damit verknüpfen. Iwanow und Timofejew haben weder die Miliz noch ihren eigenen Sicherheitsdienst verständigt, obwohl ihr Leben bedroht wurde. Das lässt vermuten, dass da irgendeine Botschaft mit im Spiel war, die sie auch verstanden haben.«
»Timofejew wurde die Kehle durchgeschnitten. Was für eine subtile Botschaft soll denn damit verbunden sein?«
»Vielleicht ist es der Fundort des Toten, direkt vor einem Dorffriedhof. Entweder ist er den weiten Weg von Moskau nur gekommen, um auf diesen Friedhof zu gehen, oder jemand hat keine Mühen gescheut, ihn dort hinzulocken. Wer hat entdeckt, dass er eine durchschnittene Kehle hatte?«
»Vermutlich jemand, der in den Kühlraum gegangen ist. Die Leute waren nicht davon angetan, dass da eine Leiche drin lag, das kann ich Ihnen sagen. Sie mussten alles andere rausräumen.«
»Warum hätte dann jemand hineingehen sollen, außer um sich die Leiche anzusehen?«
»Renko, bis heute wusste ich nicht, dass kriminalistische Arbeit zum großen Teil auf haltlosen Spekulationen beruht.«
»Dann wissen Sie’s jetzt.«
Die Bäume wurden noch höher, die Schatten noch dunkler, die Wurzeln noch älter und verschlungener. Arkadi stapfte durch Adlerfarn und bildete sich ein, dass es unter den Wedeln von Spinnen, Salamandern und Schlangen wimmelte. Schließlich blieb Alex am Rand einer Lichtung stehen. Im blendenden Sonnenlicht lag eine Wiese mit weit geöffneten Gänseblümchen und den roten Farbtupfern vereinzelter Mohnblumen. Alex gab ihm ein Zeichen, sich hinzukauern, und deutete auf den höchsten Punkt der Wiese, wo zwei Hirsche standen und mit dunklen, feuchten Augen in ihre Richtung blickten. Arkadi war Hirschen in freier Natur
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