Treuepunkte
Reumütigkeit verwandelt sich zunehmend in Wut. Mist, ich habe vergessen, Heike zu fragen, wie ich ihr bei der Kindergeschichte behilflich sein soll. Ich versuche, schnell nochmal anzurufen. Es meldet sich niemand. Na ja, da muss sich meine Neugier wohl ein wenig gedulden.
Der Vormittag ist rum und ich habe eigentlich nichts getan. In einer halben Stunde muss ich Mark vom Kindergarten abholen und Claudia, meine stolze Viertklässlerin, wird in einer Stunde auf der Matte stehen. Sie läuft von der Schule nach Hause. Viele Mütter holen ihre Töchter mit dem Auto ab. Obwohl die Entfernung nicht der Rede wert ist. Wegen der Gefahren. Ich selbst bin jahrelang zur Schule gelaufen und finde, es schadet Kindern auch nicht. Liest man nicht überall, dass sich die Kleinen mehr bewegen sollten? Natürlich bin ich manchmal im Zweifel, gerade wenn es wieder grausige Schlagzeilen über entführte und missbrauchte Mädchen gegeben hat. Aber ich zweifle auch am lückenlosen Schutzprogramm. Ein Leben ohne Risiko gibt es nun mal nicht. Und Claudia läuft in Gesellschaft. Mit zwei anderen Kindern hier aus der Straße.
Mit Tamaras Sohn Emil zum Beispiel. Dem Hochbegabten.
Der leider die erste Klasse zweimal machen musste. Wegen der Hochbegabung, meint Tamara. Er war unterfordert und hat sich deswegen verweigert. So kommt es, dass Emil und Claudia jetzt in einer Klasse sind. Emil ist ein seltsames Kind. Haut gerne mal zu, zwickt und kneift, kann aber auf der anderen Seite schwarze Löcher und Einsteins Relativitätstheorie erklären. Vielleicht färbt ja ein wenig von seiner Cleverness auf meine Tochter ab. Claudia ist keins dieser Überfliegerkinder. Gut, wir haben ihren IQ noch nie testen lassen, aber bisher konnte ich auch keine Zeichen von Hochbegabung ausmachen und blamieren möchte man sich bei dem Test ja nun auch nicht. Wie peinlich, man geht mit dem Kind zu einem Psychologen, weil man meint, es sei hochbegabt, und es stellt sich heraus, dass es geradeso, mit viel Glück, für den Durchschnitt reicht. So was will doch niemand wissen. Claudia mag Emil nicht besonders, vor allem, weil er nahezu andauernd in der Nase bohrt. »Der ist eklig«, sagt Claudia und hat damit natürlich Recht. Sie will nicht zusammen mit dem Nasenbohrer zur Schule laufen. »Guck halt nicht hin«, sage ich und, »du musst ihn ja nicht heiraten.« Das Wort heiraten ist für Claudia fast noch ekliger als nasenbohren. Sie schüttelt sich geradezu. Schon bei dem Gedanken. Bei Mädchen in diesem Alter scheint die Heiratsabneigung programmiert. Vielleicht eine Art natürlicher Schutzinstinkt. Aber warum und wann geht der uns eigentlich verloren?
Aber trotz all ihrer instinktiven Abneigung: Sie läuft mit Emil. Auch Tamara besteht darauf, dass Emil mit Claudia läuft. Der ist davon ähnlich begeistert wie meine Tochter, und so trotten die beiden nebeneinander her wie arme,
stumme Zwangsverheiratete. »Worüber sprecht ihr so, wenn ihr nebeneinander herlauft?«, habe ich mal gefragt und Claudia hat mich angeguckt, als wäre ich eine Wahnsinnige. »Ich rede mit dem Emil nicht«, hat sie gesagt. So als wäre das eine wirklich abartige Idee. »Wenn ich in die neue Schule komme, muss ich dann immer noch mit dem Doofkopf laufen?«, fragt mich Claudia regelmäßig. »Nein, wahrscheinlich nicht«, habe ich ebenso oft geantwortet, denn je nach Schulwahl hat der kleine kluge Emil einen anderen Weg als meine Claudia.
Apropos Schulwahl. Ein absolut heikles Thema, das uns hier an der Mütterfront nahezu rund um die Uhr beschäftigt. Spätestens wenn die Kinder in der dritten Klasse sind, geht es los. »Auf welche Schule wird deine denn gehen?«, heißt es dann oft. Natürlich bin ich mittlerweile auch infiziert und mache mir so meine Gedanken. Man kann sich einfach nicht entziehen. So wie es in der Mode angebliche Must-haves gibt, gehört dieses Thema zu den Must-haves, wenn man Kinder hat.
Hier bei uns am Ort gibt es keine weiterführenden Schulen, wie es so schön heißt. Also müssen die Kinder in Nachbarorte fahren. Mit der S-Bahn oder dem Bus. Was natürlich nicht das Hauptentscheidungskriterium ist. Das wäre vielleicht logisch, aber natürlich viel zu profan. Es geht um die passende Schule fürs Kind. Da ist zunächst die Frage: Haupt-, Realschule oder Gymnasium? Oder vielleicht gleich die Gesamtschule? Kinder bekommen heutzutage eine Empfehlung. Lehrer sagen, welche Schule sie je nach Kind für geeignet halten.
Claudia ist eine ganz gute Schülerin.
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