Trias
sah jetzt aus dem Fenster auf die beiden Spatzen, die auf dem Zweig der Eibe aufgeregt umherhüpften. Sydow war soeben angerufen worden und gestikulierte mit seiner freien Hand in einer Ecke des Lokals, während er leise, aber mit angespanntem Gesichtsausdruck in den Hörer sprach. Als er an den Tisch zurückkehrte, sah er müde aus.
Der V-Mann setzte sich wieder und schwieg einen Moment lang. Dann sagte er: »Ich bitte Sie, mir jetzt gut zuzuhören. Die Geschichte von Haus Morgenrot ist spannend, aber auch komplex.«
Croy sah sein Gegenüber aufmerksam an. Er fühlte sich immer dann am besten informiert, wenn sich jemand die Mühe machte, Zusammenhänge auch schlüssig zu erklären.
»Als Marienstrand im vergangenen Jahr den Zuschlag für die Abhaltung des G8-Gipfels erhielt, erweckten die Veranstalter auch das ehemalige Kurheim Haus Morgenrot aus seinem Dornröschenschlaf. Bei der allerersten Durchleuchtung der Geheimdienste und der Vorauskommandos der Regierungen Mitte dieses Jahres waren Semjonows Berater und die Männer der Kreml-Security von der Ruine hoch entzückt. Sie baten darum, hier den russischen Präsidenten und seine Begleitung einquartieren zu dürfen.«
Croy nickte. »Ich hörte und las davon«, sagte er. »Berlin zeigte sich sehr großzügig. In nicht einmal drei Monaten Bauzeit entstand ein Schmuckstück, das die lächerliche Renovierungssumme von fünf Millionen Euro verschlang.«
»Knappe Zeit braucht eben flinkes Tun«, ergänzte Sydow.
»Doch was niemand wusste oder wissen wollte: Das Haus war zwischen 1934 und 1936 die Sommerresidenz von Hitlers Propagandaminister Josef Goebbels. Vier Männer waren damals seine ständigen Begleiter: Maximilian Graf von Sprock, Heinrich Franzen, Ludwig Rumpf und mein Großvater Friedrich Sydow. Aus Tagebuchaufzeichnungen geht hervor, dass sie mit Goebbels im oder am Strand vor Haus Morgenrot Redemanuskripte für seine Vorträge entwarfen und diese, beseelt von Wein, mit besonders deftigen Schlagworten nationalsozialistischer Propaganda füllten. Doch das war nicht ihr einziges Hobby. Zusammen konstruierten sie mit dem Champagner- und Weinliebhaber Goebbels einen raffinierten Weinkeller, der, einer Katakombe gleich, dem Sturm eines jeden Kriegsangriffs trotzen und als Lager für bessere Zeiten dienen sollte. Doch im Gegensatz zu den Nachbarvillen verfiel Haus Morgenrot später zu einer Ruine.«
Croys Kaumuskeln mahlten. »Und wohin soll dieser Geschichtsausflug führen?«
»Vielleicht hätte die Regierung bei der Renovierung nicht so schnell sein sollen«, sagte Sydow. Croys Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »Offenbar sind den Architekten, Restaurateuren, Maurern, Zimmerleuten, Elektrikern und Klempnern die unterschiedlichen Mauersteine an einer Wand des Kellers nicht aufgefallen. Vielleicht waren sie nicht feucht. Also überputzte man sie in einem Schwung mit den anderen Wänden. Doch hinter diesen Mauersteinen führt ein Gang hinunter in das labyrinthartige Weindepot, das übrigens von einem Schacht gut durchlüftet wird, der ins Freie führt.«
»Warum betonen Sie die Konstruktion des Weinkellers so auffällig? Was hat es damit auf sich?«, fragte Croy drängend.
Sydow sah auf die dampfende Tasse Tee vor sich. Er sprach weiter. »Außer Spread kannte sich jeder der drei Söhne in dem Geheimgang gut aus. Die Familien Sprock, Rumpf und mein Großvater hielten auch nach dem Krieg den Kontakt zu ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht in ganz Deutschland. Noch in den späten Vierzigerjahren traf man sich gern in Haus Morgenrot und feierte Familienfeste fast so wie in alten Zeiten. Paul, Stefan und meinen Vater quälte oft die Langeweile. Sie spielten deshalb in der Weinkatakombe Verstecken. Ein ganz besonderer Kick, denn von einem Hauptraum führen kleine Nebengänge ab, die sich selbst auch wieder verzweigen. In jedem dieser Nebengelasse war Wein aus verschiedenen Jahrgängen in Regalen abgelegt und nummeriert.«
»Wie erfuhren Sie davon? Sie dürften damals noch nicht gelebt haben.«
»Mein Vater erzählte oft davon. Doch ab den späten Fünfzigerjahren reiste er nicht mehr in die DDR und kam somit auch nicht wieder nach Marienstrand zurück.«
»Und warum glauben Sie, existiert das Labyrinth heute noch?«
»Sprock besaß ein ständiges Einreisevisum in die DDR. Er machte mit der DDR-Regierung Geschäfte. Düngemittel, Schädlingsbekämpfungsmittel, dieses Zeug eben. Die Villa stand nach dem Krieg immer leer. Und ich bin fast sicher, dass er
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