Trias
zugemauerten Republik zu erfahren. Später setzte er sie auf die Stange seines Rennrads und fuhr sie zum Grenzbahnhof Berlin-Friedrichstraße. Sie küssten sich zum Abschied auf die Wangen, dann auf den Mund. Sie verabredeten ein weiteres Treffen. Es war der Beginn einer ein Jahr währenden romantischen Beziehung zwischen einem verliebten jungen Mann und einer wissbegierigen Studentin, die meist nur Fragen stellte und angefüllt mit Erlebnissen aus einer anderen Welt nachdenklich nach Westberlin zurückkehrte. Es war aber auch der Anfang einer monatelangen Observierung durch Mitarbeiter des ostdeutschen Staatssicherheitsdienstes. Ohne es zu ahnen, hatte Croy Menschen angelockt, die sich wie Wespen auf zwei Erdbeeren stürzten.
Shirley war die erste Frau seines Alters, die ihm ernsthaft zuhörte, die seine innere Zerrissenheit spürte, die von den Verlusten und Ängsten in seiner Kindheit und von den Zweifeln am vorherrschenden Staatssystem genährt war. Reflektionen, Leidenschaft, aufkeimende Zuneigung.
Shirley schenkte ihm Platten von Grateful Dead und Tom Waits. Sie schmuggelte den Spiegel in den Osten und auch schon mal die Bravo . Sie steckte Croy, der notorisch klamm war, stets ein paar D-Mark zu, die er auf dem Schwarzmarkt für einen happigen Umtauschkurs in Ostmark zurückwechselte. Wurde sie an der Grenze darauf angesprochen, wo sie ihr Geld ausgegeben habe, verwies sie auf die Intershops, in denen Besucher aus dem Westen auch Waren aus dem Westen kaufen konnten.
Sie, die aus dem kleinen Kaff Rutherford in New Jersey stammte, war nicht nur am interessantesten Ort der Welt angekommen. Sie hatte dazu noch einen gut aussehenden, intelligenten jungen Mann kennen gelernt, für den sie nicht nur das »Mädchen aus Amerika«, sondern auch der Kontakt zu einer anderen Welt war.
Fieberhaft dachte Markus damals darüber nach, wie er es schaffen könnte, mit ihr ein gemeinsames Leben im Westen zu führen. Sie war ein Leitbild für ihn geworden, ein leuchtender Stern an einem düsteren Himmel, eine Frau, die ihre Überlegenheit in Bezug auf Wissen und Weltgereistheit ohne Arroganz, aber deutlich zeigte.
Shirley bekam die Macht des MfS als Erste zu spüren. Am Grenzübergangspunkt Checkpoint Charlie hielten sie zwei Grenzbeamte auf:
»Sie sind in der Deutschen Demokratischen Republik ab sofort unerwünscht.«
»Warum?«, fragte sie bestürzt.
»Keine Fragen. Gehen Sie dorthin, wo Sie hergekommen sind«, stutzte sie einer der Männer zurecht.
Vor dem Haus von Markus Croy in der Ostberliner Lychener Straße tauchten Männer mit wachen Blicken auf und blieben für ihn sichtbar wie Wachhunde vor dem Eingang stehen. Er sah sie, wenn er das Haus verließ; sie verfolgten sein Rennrad und waren bereits vor seiner Tür, wenn er heimkehrte. Mal lungerten sie im Innenhof des Gebäudes herum, mal saßen sie in der Straßenbahn ein paar Reihen hinter ihm oder begleiteten ihn mit mehreren Metern Abstand in eine Kneipe. Sie wurden so offensichtlich zu seinem Schatten, dass er sich beim Amt für Inneres über ihre Aufdringlichkeit beschwerte. Croys Dreistigkeit zahlte sich aus. Die Männer zogen sich weiter zurück, blieben aber präsent.
Shirley und er schrieben sich ab sofort Briefe mit harmlosem Inhalt. Ob er wirklich jeden Brief erhalten hatte, wusste er nicht. Obwohl sie sich schworen, dass niemand die Macht haben würde, ihr Glück zu zerstören, kam es anders. Die Behörden blieben hart, Shirleys Gastsemester lief aus, sie kehrte nach New York zurück. Ihr Kontakt wurde immer spärlicher, schließlich brach er ab. Da hatte Croy längst beschlossen, seinem Land den Rücken zu kehren. Er wollte selbst bestimmen, wohin der Wind ihn wehte. Es war die Zeit, in der er seinen Kompass neu justierte.
Als er endlich eingeschlafen war, blieb seine erste Nacht in Prag ohne Traum.
19
Bundesnachrichtendienst, Berlin-Mitte, am nächsten Tag, 10:30 Uhr
BND-Referatsleiter Paul Hess war ähnlich gut ausgebildet wie BKA-Vizepräsident Konrad Kaltenborn. Beide hatten Erfahrungen im Streifendienst, hatten Selbstverteidigungskurse absolviert und vier Jahre lang an der gleichen Fachhochschule in Brühl Kriminologie und Soziologie studiert.
Doch im Gegensatz zu Kaltenborn konnte Hess der polizeilichen Kärrnerarbeit nichts abgewinnen. Er liebte das Konspirative, Kaltenborn das offene Visier. Hess kungelte gern, labte sich an Wissen, das er mit niemandem teilen musste, und schätzte das Gefühl eines gewissen Abenteurertums.
Er bemerkte
Weitere Kostenlose Bücher