Trias
Stadtbild der ostböhmischen Stadt Pardubice geht es auf einer Landstraße dritter Klasse hinaus in eine Gegend mit starken Kontrasten. Tiefe Krater stillgelegter Steinbrüche unterbrechen die Hügel und Ebenen der ersten Ausläufer des Riesengebirges. Die Fahrt führt über kilometerlange Alleen mit Linden und Walnussbäumen und durch uralte Dorfanlagen mit Ställen, Brunnen, Plätzen und Kirchen. Das Dorf Lezáky gehörte bis 1944 mit zu diesem einmaligen Ensemble der ländlichen Zivilisation Böhmens. Doch es existiert nicht mehr. Der 50-Seelen-Ort teilte sich sein Schicksal mit vielen Dörfern Europas, die sich in den Jahren 1941 bis 1945 gegen die Deutschen erhoben hatten.
Dort, wo einst das katholische Gemeindezentrum stand, rollte soeben ein silberfarbener Audi A 8 vor und hielt. Ein Mann von Mitte sechzig entstieg dem vornehmen Wagen, streifte seine etwas zerknitterten Hosen wieder glatt und sah sich witternd um. Er hatte ein knochiges Gesicht mit einer hervorstechenden Nase, die wie ein Schnabel zu seinen dünnen Lippen herunterwuchs. Seine Physiognomie gab ihm den Ausdruck eines großen, hässlichen Vogels. Sein Name war Paul Graf von Sprock. Er war ein wohlhabender Mann. Sprock verdiente nicht nur sehr viel Geld als Düngemittelfabrikant; sein Vater Maximilian hatte bereits zu Lebzeiten eine größere Summe an den Sohn umgelenkt.
Sprock kannte sich hier gut aus. Sein Vater hatte während des Zweiten Weltkrieges ein Hinrichtungskommando geleitet, das neben den Männern des Dorfes auch Frauen und Kinder nicht verschont hatte. Sprock spazierte gemächlich zu einem flach gebauten Haus, in dem eine Gedenkstätte eingerichtet war. Im Innern erklärten mehrere Bild- und Texttafeln, wie es zu diesem Genozid gekommen war. Sprock sah verächtlich auf die Exposition. Obwohl sich alles in ihm sträubte, die Aufarbeitung der dramatischen Ereignisse aus tschechischer Sicht zu betrachten, trat er näher an die Tafeln heran. War es bloße Neugier, ein winziger Anflug schlechten Gewissens oder doch nur das Gefühl, sich noch einmal bestätigen zu lassen, worüber er längst ausführlich im Bilde war? Er konnte es sich selbst nicht beantworten. Sprock verschränkte die Arme hinter seinem Rücken, setzte eine Brille auf und begann, den teils in polemische Worte gefassten Ausstellungstext zu lesen. Zwischen den einzelnen Textteilen waren schwarz-weiße Fotografien aus der Zeit zwischen 1914 und 1944 eingefügt.
Die historische Rückschau markierte auch den Beginn der wechselvollen Geschichte der einstmals vereinten Republiken Tschechien und Slowakei: »Nach Bildung der Tschechoslowakei erließ die Regierung in Prag ein Dekret, wonach die ostböhmische Stadt Pardubice ein Zentrum der chemischen Industrie werden sollte«, las Sprock. »Die Verkehrswege nach Deutschland, Polen, zur Ukraine und südlich nach Österreich, Ungarn und weiter nach Südosteuropa waren gut ausgebaut; der Güterverkehr war garantiert.
1919 entstand das elektrotechnische Werk Telegrafia , ein Jahr später die Sprengstofffabrik Explosia Semtín.
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs lockte die prosperierende Wirtschaft auch gierige Parasiten an: Böhmen und Mähren wurden von Nazi-Deutschland zum Reichsprotektorat erklärt und der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, SS-Obersturmführer Reinhard Heydrich, zu Hitlers Stellvertreter auf tschechischem Boden ernannt.
Mit der Besetzung der Region durch deutsche Truppen kannten auch die Produkte aus Pardubice nur noch eine Richtung. Die nach Westen.
Doch die Wehrmacht sah sich gut organisierten Partisanen gegenüber, die aus den Bergen heraus erbitterten Widerstand gegen die Besatzer leisteten …«
Sprock sah sich unruhig um. Es waren weitere Ausstellungsbesucher in seine Nähe getreten. Er fühlte Unbehagen, las aber weiter.
»Mit der Ankunft Reinhard Heydrichs 1941 in Prag verschärften sich die Auseinandersetzungen. In den ersten drei Monaten seiner Amtszeit ließ er 500 Todesurteile vollstrecken, 5 000 Tschechen verschwanden spurlos in Arbeits- und Todeslagern.
Die Nachrichten über geschickte Sabotageakte der Untergrundkämpfer drangen bis nach London vor und mobilisierten die Abwehrfantasien der britischen Geheimdienste gegen die Deutschen. Ende 1941 reifte der Plan, eine Aufsehen erregende Aktion durchzuführen - ein Attentat auf den verhassten Reichsprotektor. Die Aktion erhielt den Decknamen Anthropoid . Unter strengster Geheimhaltung wurde ein eng ausgesuchter Kreis von Soldaten hierfür
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