Tricks
dreißig Jahre alt, Robin sechsundzwanzig. Joanne hatte einen kindlichen Körper, eine schmale Brust, ein langes, fahles Gesicht und glatte dünne braune Haare. Sie versuchte nie vorzutäuschen, sie sei alles andere als ein unglücklicher Mensch, stehengeblieben auf halbem Wege zwischen Kindheit und weiblicher Reife. Stehengeblieben, behindert durch starkes und hartnäckiges Asthma, das einsetzte, als sie noch ein kleines Kind war. Von einem Menschen, der so aussah, einem Menschen, der im Winter nicht vor die Tür konnte und den man nachts nicht allein lassen durfte, erwartete man nicht die Neigung, Torheiten anderer, glücklicherer Menschen so gnadenlos bloßzustellen. Auch keinen so unerschöpflichen Vorrat an Verachtung. Sein ganzes Leben lang, so kam es Willard vor, hatte er gesehen, wie Robins Augen sich mit Zornestränen füllten, und gehört, wie Joanne fragte: »Was hast du denn
jetzt
schon wieder?«
Heute Abend verspürte Robin nur einen leichten Stich. Morgen, das war ihr Tag drüben in Stratford, und sie fühlte sich schon außerhalb von Joannes Reichweite.
»Welches Stück gibt es, Robin?«, fragte Willard, um die Wogen zu glätten, so gut er konnte. »Ist es von Shakespeare?«
»Ja.
Wie es euch gefällt
.«
»Und verstehst du ihn völlig? Shakespeare?«
Robin bejahte.
»Du bist ein Wunder.«
*
Seit fünf Jahren machte Robin das. Ein Stück jeden Sommer. Es hatte angefangen, als sie wegen ihrer Ausbildung zur Krankenschwester in Stratford wohnte. Sie ging mit einer Mitschülerin hin, die zwei Freikarten von ihrer Tante bekommen hatte, die in der Kostümabteilung arbeitete. Das Mädchen mit den Karten hatte sich zu Tode gelangweilt – es gab
König Lear
–, deshalb hatte Robin über das, was sie empfand, geschwiegen. Sie hätte es sowieso nicht ausdrücken können – am liebsten hätte sie das Theater allein verlassen und anschließend mindestens vierundzwanzig Stunden lang mit niemandem geredet. Sie entschloss sich wiederzukommen. Und zwar auf eigene Faust.
Das konnte nicht so schwer sein. Die Stadt, in der sie aufgewachsen war und in der sie später wegen Joanne Arbeit finden musste, lag nur dreißig Meilen weit entfernt. Die Leute dort wussten, dass Shakespeares Stücke in Stratford aufgeführt wurden, aber Robin hatte noch nie von jemandem gehört, der hingefahren war, um sich eins anzuschauen. Leute wie Willard hatten Angst, von den Leuten im Zuschauerraum scheel angesehen zu werden, zusätzlich zu dem Problem, der Sprache nicht folgen zu können. Und Leute wie Joanne waren überzeugt, dass niemand je wirklich Gefallen an Shakespeare finden konnte, und wenn also jemand von hier hinfuhr, dann nur, weil er oder sie sich unter die feinen Herrschaften mischen wollte, die sich nicht amüsierten, sondern nur so taten, als ob. Die wenigen Leute in der Stadt, die die Gewohnheit hatten, sich Theateraufführungen anzusehen, fuhren lieber nach Toronto ins Royal Alex, wenn ein Broadway-Musical auf seiner Tournee dort Station machte.
Robin saß gerne auf einem guten Platz, also konnte sie sich nur eine Samstagsmatinee leisten. Sie suchte sich ein Stück aus, das an einem ihrer freien Wochenenden aufgeführt wurde. Sie las es nie im Voraus, und es war ihr egal, ob es eine Tragödie oder eine Komödie war. Bisher war sie im Theater oder auch draußen auf den Straßen noch nie jemandem begegnet, den sie kannte, und das passte ihr sehr gut. Eine der Schwestern, mit denen sie im Krankenhaus zusammenarbeitete, hatte zu ihr gesagt: »Ich hätte nie die Traute, so was ganz allein zu unternehmen«, und da war Robin klar geworden, wie sehr sie sich offenbar von den meisten Menschen unterschied. Sie fühlte sich nie so wohl wie bei diesen Anlässen, von lauter Fremden umgeben. Nach dem Theater ging sie immer am Fluss entlang in die Innenstadt, suchte sich ein billiges Lokal, um etwas zu essen – meistens ein Sandwich –, und setzte sich dazu auf einen Hocker am Tresen. Dann, um zwanzig vor acht, nahm sie den Zug nach Hause. Das war alles. Doch diese paar Stunden erfüllten sie mit der Zuversicht, dass das Leben, in das sie zurückkehrte und das für sie nur ein unbefriedigender Notbehelf war, bestimmt nicht von Dauer sein würde und deshalb leicht ertragen werden konnte. Und hinter diesem Leben, hinter allem, leuchtete es hell auf, ganz wie das Sonnenlicht, das durch die Zugfenster zu sehen war. Wie das Sonnenlicht mit den langen Schatten auf den Sommerwiesen, wie der Nachhall des Theaterstückes in ihrem
Weitere Kostenlose Bücher