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Tricks

Tricks

Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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mehr die Trägerin des Kartons war. Sie griff in die Tasche ihrer Skijacke, um ein Kleenex herauszuholen, und zog dabei etwas heraus, was auf den Boden des Autos fiel. Sie ächzte unwillkürlich, als sie hinunterlangte, um es zu finden, aber Lauren war schneller. Lauren hob einen der Ohrringe auf, die sie oft an Delphine gesehen hatte – schulterlange Ohrringe aus Glasperlen in allen Farben des Regenbogens, die durch die Haare funkelten. Ohrringe, die sie an diesem Abend getragen haben musste, aber dann offenbar abgenommen und in die Tasche gesteckt hatte. Und allein das Gefühl des Ohrrings in ihrer Hand, als die kalten, glänzenden Perlen durch ihre Finger glitten, veranlasste Lauren, sich plötzlich danach zu sehnen, dass alles Mögliche verschwand, dass Delphine sich wieder in die Person zurückverwandelte, die sie am Anfang gewesen war, hinter dem Empfangstresen, frech und lustig.
    Delphine sagte kein Wort, aber zum ersten Mal an jenem Abend sahen sie und Lauren sich an. Delphines Augen weiteten sich, und für einen Moment zeigten sie den vertrauten Ausdruck von Spott und Verschwörung. Sie zuckte die Achseln und steckte den Ohrring in die Tasche. Das war alles – von da an sah sie nur noch Harrys Hinterkopf an.
    Als Harry hielt, um sie beim Hotel abzusetzen, sagte er: »Es wäre schön, wenn Sie zum Essen zu uns kommen könnten, an einem Abend, wenn Sie nicht arbeiten müssen.«
    »Ich arbeite so gut wie immer«, sagte Delphine. Sie stieg aus dem Auto, sagte »Auf Wiedersehen«, ohne sich dabei an jemand Bestimmten zu wenden, und stapfte über den verschneiten Bürgersteig ins Hotel.
    Auf dem Heimweg sagte Eileen: »Ich wusste, sie wird nicht kommen.«
    Harry sagte: »Na ja, vielleicht weiß sie es zu schätzen, dass wir sie eingeladen haben.«
    »Ihr liegt nichts an uns. Ihr lag nur was an Lauren, als sie dachte, dass es ihre Lauren ist. Jetzt liegt ihr auch an ihr nichts mehr.«
    »Aber uns liegt was an ihr«, sagte Harry mit immer lauterer Stimme. »An unserer Lauren.«
    »Wir lieben dich, Lauren«, sagte er. »Ich will es dir nur ein weiteres Mal sagen.«
    Ihre Lauren. Unsere Lauren
.
    Etwas kitzelte Laurens bloße Fußgelenke. Sie streckte die Hand aus und stellte fest, dass Kletten, ganze Klettenklumpen, an den Hosenbeinen ihres Schlafanzugs hingen.
    »Ich habe Kletten von unterm Schnee. Ich habe
hunderte
von Kletten.«
    »Ich mache sie ab, wenn wir zu Hause sind«, sagte Eileen. »Jetzt kann ich nichts dagegen tun.«
    Lauren zerrte sich wütend die Kletten vom Schlafanzug. Doch sobald die Kletten von ihrer Hose abgingen, blieben sie an ihren Fingern kleben. Sie versuchte, sie mit der anderen Hand abzumachen, und in kürzester Zeit hafteten sie auch an allen anderen Fingern. Die Kletten waren ihr so lästig, dass sie am liebsten um sich geschlagen und laut geschrien hätte, aber sie wusste, dass ihr nichts weiter übrig blieb als stillzusitzen und zu warten.

Tricks
    I
    »Ich sterbe«, sagte Robin, an einem Abend vor Jahren. »Ich sterbe, wenn das Kleid nicht fertig ist.«
    Sie befanden sich auf der Veranda des mit dunkelgrünen Schindeln verkleideten Hauses in der Isaac Street. Willard Greig, der nebenan wohnte, spielte am Kartentisch mit Robins Schwester Joanne Rommé. Robin saß auf dem Sofa und schaute stirnrunzelnd in eine Zeitschrift. Der Duft des Ziertabaks kämpfte mit dem Geruch von köchelndem Ketchup aus der Küche irgendeines Nachbarhauses.
    Willard sah, wie Joanne fast unmerklich lächelte, bevor sie sich in neutralem Tonfall erkundigte: »Was hast du gesagt?«
    »Ich habe gesagt, ich sterbe.« Robin war trotzig. »Ich sterbe, wenn das Kleid morgen nicht fertig ist. In der Reinigung.«
    »Dann habe ich richtig gehört. Du wirst sterben?«
    Man konnte Joanne bei Bemerkungen dieser Art nie etwas nachweisen. So sanft war ihr Ton, so unendlich leise ihr Hohn, und ihr – inzwischen wieder verschwundenes – Lächeln bestand nur aus dem winzigen Heben eines Mundwinkels.
    »Ja, werd ich«, sagte Robin trotzig. »Ich brauche es.«
    »Sie
braucht
es, sie wird
sterben
, sie geht ins
Theater
«, sagte Joanne in vertraulichem Ton zu Willard.
    Willard sagte: »Also, Joanne.« Seine Eltern wie auch er selbst waren mit den Eltern der Mädchen befreundet gewesen – für ihn waren die beiden immer noch
die Mädchen
 –, und jetzt, da alle Eltern tot waren, empfand er es als seine Pflicht, die Töchter, so weit es ihm möglich war, davon abzuhalten, sich in den Haaren zu liegen.
    Joanne war jetzt

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