Tricontium (German Edition)
schicken könne.
Sah man von seinem Anflug von Mitgefühl ab, störte ihn aber die Wahl, die sie getroffen hatte, nicht weiter. Es war ein angenehmes Zimmer, in das durch ein hohes Fenster von der Hofseite her ausreichend Licht strömte, um das Schreiben nicht zu anstrengend zu machen, und die Wandbehänge gefielen ihm, besonders der an der Nordseite, der drei Reiter auf bunten Pferden in einem Wald mit ebenso außergewöhnlich gefärbten Bäumen zeigte. Das Beste daran war aber der Bär, der sich leuchtend blau zwischen gelben und roten Stämmen versteckte und zu lachen schien, vielleicht über seine eigene Farbe, vielleicht auch nur angesichts der reichlichen Mahlzeit, die ihm nichtsahnend entgegengeritten kam. Wer auch immer die Stickereien angefertigt hatte, musste dabei heimlich gelacht und in wilden Geschichten geschwelgt haben.
»Ardeija lässt sich Zeit«, bemerkte die Richterin schließlich und ahnte sicher nicht, dass sie hochwichtige Betrachtungen unterbrach. »Wenn er nicht bald kommt, ist Otter noch vor ihm hier.«
»Vielleicht hat er nur verschlafen.«
»Vielleicht hat er verschlafen wollen. Nicht, dass ich es ihm verdenken würde … Verworrener kann das alles hier kaum werden.« Sie legte die Papiere beiseite und fuhr sich müde über die Stirn.
Wulfila deutete auf die Zettel, die sie auf das Schaffell zu ihren Füßen befördert hatte. »Hilft es nicht weiter, was Honorius schreibt?«
Herrad sah auf. »Nur bedingt, wenn er denn überhaupt viel davon selbst diktiert hat. Es würde mich nicht wundern, wenn seine Schreiberin das Meiste davon zu verantworten hätte. Der Bericht klingt so, wie sie redet, und ob er wahrheitsgetreu ist, weiß ich auch nicht.« Sie langte nach dem Schürhaken. »Die ersten drei Seiten sind nichts als eine langatmige Klage über die Verhältnisse in Tricontium in den letzten Jahren, Ihr könnt Euch denken welchen Inhalts: kein Geld, keine Leute, keine Möglichkeit, den ehemaligen Markgrafenhof wieder instand zu setzen, und angeblich zwölf Eingaben an Adalhard ohne Erfolg. Interessant wird das Ganze erst, als es dann um die Zeit vor ein paar Wochen geht.«
»Als Honorius wusste, dass er abberufen werden würde?«
»Auch das. Wichtiger ist, dass zu dem Zeitpunkt bei dem alten Turm wohl noch fünf Höfe bewirtschaftet waren, mit mehr Bindungen an die Gegend jenseits der Grenze als an Aquae. Dann aber kam eines Tages ein Fremder oder vielleicht auch nicht ganz so Fremder mit einer Warnung, die wohl ernst genommen wurde, denn bis auf einen unverwüstlichen Alten und seinen Knecht haben sich alle binnen einer Woche davongemacht, ohne sich noch um die Herbstaussaat zu kümmern. Wenn das nur eine kurzfristige Flucht vor Ebbo und seinen Barsakhanen war, würde es mich wundern.«
Wulfila versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, was genau er auf seinem Ritt zu dem alten Wachturm gesehen hatte. »Ihr meint, sie hatten nicht die Absicht, je zurückzukehren, und Honorius hat es weder verhindert noch genauer in Erfahrung gebracht, was dort überhaupt vorging? Das würde erklären, warum außer Ebbos Leuten niemand dort war.«
Herrad hob die Schultern. »Wie viel oder wie wenig Honorius gewusst hat, kann ich nicht beurteilen. Unseren guten Grafen von Corvisium hat er nicht in seinem Bericht erscheinen lassen. Es ist nur die Rede von Barsakhanenreitern in der Nähe, deren Anwesenheit Honorius veranlasst hätte, vor meiner Ankunft abzureisen. Er will mir einen Boten geschickt haben, dessen Verbleib ungeklärt ist, wenn es den Mann denn je gab, und hat angeblich auch einen zum Brandhorst gesandt, um dort vor der Gefahr zu warnen. Was er mit Malegis abgemacht hat, lässt er auch unerwähnt, ebenso wie seinen kleinen Besuch in Tricontium. Er gibt nur an, er sei mit seinen letzten Getreuen auf wenig begangenen Wegen durch den Kranichwald nach Aquae geflohen, wo man ihm das Niedergericht habe übertragen wollen.«
»Nichts von Otachars Schatz?«
»Doch, doch, eine wirre Erklärung über einen reumütigen Anhänger des Markgrafen, der bei einem Aufenthalt in Tricontium etwas verraten habe. Die Sache ist so an den Haaren herbeigezogen, dass ich sie Euch nicht in Einzelheiten zumuten möchte.« Sie lehnte sich zurück und kreuzte die Knöchel. »Wenn Ihr mich fragt, hat er schon lange Kenntnis von dem Versteck gehabt, und als er nach seinen schlimmen Tagen in Tricontium hierher zurückkam, den Vogt abwesend und das Hochgericht unbesetzt fand, war die Versuchung zu groß.«
Wulfila
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