Tricontium (German Edition)
verstanden hat.«
»Das hast du gehört?« Wulfila spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg.
Doch es lag kein Spott in Herrads Lächeln. »Natürlich. Ich muss herumlaufen, um denken zu können, und wenn man um das Niedergerichtsgebäude herumgeht, kommt man unweigerlich unter den Zellenfenstern vorbei. Ich habe schon einiges da gehört, sehr nützliche Dinge ebenso wie recht beleidigende, mehr Flüche und Gebete, als ich zählen kann, und auch ein paar Lieder. Du warst allerdings der Einzige, der mir so ausdauernd eines über einen kleinen Esel geboten hat, dass ich es am Ende auswendig konnte.«
»So viele Lieder, die sich als Schlaflied eignen, kenne ich nicht«, sagte Wulfila entschuldigend und musste doch lachen. »Aber eigentlich kannst du sehr beruhigt sein. Was du sonst noch über mich herausfinden kannst, wird dich auch nicht mehr abschrecken, wenn du nicht nur weißt, dass ich gestohlen und betrogen habe, sondern auch, wie schlecht ich singe.«
Herrad lachte mit, doch dann wurden ihre Augen, die eben noch so vergnügt gewesen waren, sehr ernst, und sie schlug das Buch zu. »So schlimm war es nun auch nicht«, versicherte sie und war doch in Gedanken merklich mit etwas anderem beschäftigt als mit seiner damaligen Darbietung des Esellieds.
»Was ist?«
»Nichts eigentlich.« Herrad beugte sich rasch wieder über die Leges und wirkte überrascht, sie geschlossen zu finden. »Mir ist nur gerade etwas Seltsames aufgefallen. Ich habe dein Gesicht noch nie ganz gesehen. Nicht ohne diese Augenklappe.«
Wulfila sah zu Boden. Herrad hatte Recht, und doch wäre ihm jede andere unausgesprochene Aufforderung lieber gewesen, selbst die, alle Kleider von sich zu werfen, damit die Richterin sich in aller Ruhe besehen konnte, was sie bekommen würde, wenn sie nur wollte. »Wenn man danach geht, dann kennen nicht besonders viele Leute mein ganzes Gesicht«, begann er schließlich und schwieg darüber, dass Merula Tag um Tag gesehen hatte, wie eine hässliche Wunde sich langsam in die Narbe, die geblieben war, verwandelt hatte. Es war nicht der rechte Zeitpunkt, auch nur ihren Namen auszusprechen. »Gut, mein Vater kennt es, Wulfin auch … Und ein verdammter Richter in Valliolum, der glaubte, ich wäre einer von diesen Bettlern, die Verletzungen vortäuschen, um Mitleid zu erregen, und unbedingt nachsehen musste.«
Seine eigene Heftigkeit erschreckte ihn und er wusste, dass er den Vorfall besser hätte unerwähnt lassen sollen.
Doch Herrad blieb nach außen hin ruhig, als sei ihr nicht eben ein Vertrauensbeweis verweigert worden. »Ich hätte nicht so aufdringlich sein sollen, den Gedanken laut auszusprechen«, sagte sie, scheinbar gelassen. »Und jetzt habe ich darüber auch noch die Seite verschlagen. Nun, wo war ich?«
»Bei den Zauberern.« Wulfila hatte den unguten Eindruck, dass er seine Sache gar nicht schlechter hätte machen können. »Aber warte noch, ja?« Seine Finger stellten sich sehr ungeschickt damit an, hastig das Band zu lösen, bevor seine Entschlossenheit nachlassen konnte. »Schön sieht es nicht aus, aber es ist ja nichts dabei.«
Er log; es war sehr viel dabei, so nackt und verletzlich vor ihr zu stehen und zu wissen, dass sie gleich mitleidig den Blick senken und dann ihrerseits höflich lügen würde.
Das alles erschien so unabwendbar, dass er lange brauchte, um zu begreifen, dass seine Erwartung sich nicht erfüllt hatte und Herrad ihn immer noch geradewegs ansah, ohne zurückgeschreckt zu sein. »Nein, schön sieht es nicht aus.« Sie war ehrlich, auch das hätte er wissen sollen. »Aber sehr verwegen.«
Wulfila bemerkte erst verspätet, dass er lächelte, und wusste nicht, ob es Erleichterung war oder der Wunsch, über sich selbst und seine Ängste zu lachen. »Sehr verwegen, ja. Ich bin bestimmt der Einzige, dem es gelungen ist, sich am Morgen nach Bocernae in heldenhafter Begegnung mit den tückischen Ästen des Kranichwalds so etwas zuzuziehen.«
»Ein Ast?« Nun verzog Herrad doch das Gesicht, als könne sie sich den Unfall, der diese Spuren hinterlassen hatte, bildlich vorstellen. »Oh je.«
»Der Wald war voller Leute des Königs, als ich nach Ardeija gesucht habe«, erklärte Wulfila. »Ich musste Umwege machen, durch engen Bewuchs hindurch und auf unsicherem Grund. Und dann … Man rutscht, sinkt ein, stürzt, schlägt auf, spürt etwas und denkt, dass das doch jetzt nicht geschehen sein kann. Und wenn man es dann zwischen Schrecken und Schmerzen doch endlich
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